Hören in einer beschallten Welt Musikalische Sensibilisierung in der Grundschule

Diese Beitrag korrespondiert mit dem Artikel von Kerstin Walz  „Beginnen wir mit mir – mein Name ist Musik“. Die synoptische Darstellung der Druckausgabe kann mit der PDF-Version in der Doppelseitenansicht nachvollzogen werden.

1 Einleitung

Musikunterricht

„Hörerziehung erscheint gegenwärtig als eine vordringliche Aufgabe des Musik­unterrichts“, so schreibt der deutsche Musikpädagoge Dankmar Venus in seiner Unterweisung zum Musikhören bereits im Jahr 1969 (Venus, 1969, S. 7).

Auch über 50 Jahre später ist das Hören zentraler Aspekt einer vielschichtigen Musikpädagogik, heute freilich unter völlig anderen Voraussetzungen, Bedingungen und Zielperspektiven. Lehrpläne, Lernziele, Kompetenzformulierungen weisen dem Schulfach Musik ein breites Arbeits- und Betätigungsfeld zu, das innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen und Zeitressourcen mitunter schwer bewältigbar zu sein scheint.

Medienverhalten – ich stehe an der ersten Stelle

Bei aller Vielfalt innerhalb der schulischen Arbeit kommt dem Hören zentrale Bedeutung zu, zumal der hörende Umgang mit Musik eine der wichtigsten Freizeitbeschäftigungen von Kindern und Jugendlichen ist. Laut der KIM-Studie 2018 (einer Basisuntersuchung zum Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 13 Jahren) rangiert das Musikhören nach Fernsehen, Freunde treffen, Hausaufgaben, drinnen spielen, draußen spielen, Eltern/Familie im Ranking der wöchentlichen Beschäftigungen an siebter Stelle (mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2018, S. 11). In einer aktuellen Umfrage zu den musikalischen Praxen in der Freizeit von Volksschulkindern aus Innsbruck nahm das Musikhören (erwartungsgemäß) mit Abstand den größten Stellenwert ein (Nagiller-Rendl, 2020, S. 51).

Die Vertreibung der Stille

Aber nicht nur das Hören von Musik rückt in den Fokus, generell ist das Hören, nämlich das Zuhören, das konzentrierte Hören, damit auch das Wahrnehmen und Aufnehmen zum Problem einer dauerbeschallten Welt geworden, wie es Rüdiger Liedtke in seinem Buch Die Vertreibung der Stille bereits vor mehr als drei Jahrzehnten feststellen musste (Liedtke, 1988).

2 Didaktischer Rückblick

Musikgeschichte – meine Kindheit

Das Hören von Musik rückte erst mit dem Aufkommen der sogenannten technischen Mittler wie Radio, Fernsehen oder später Schallplatte und Kassette in den 1950-er/60-er Jahren in den Fokus der Musikpädagogik. Musikunterricht bestand davor hauptsächlich aus Singen und Musizieren sowie der Vermittlung elementarer Musiklehre und Musikgeschichte bzw. Formenlehre.

Produktion – Reproduktion – Rezeption – Reflexion – Transposition

Das Hören von Musik im Unterricht war neu und forderte auch eine neue Didaktik. Grundlegende pädagogische Strukturen und didaktische Begründungen lieferten dazu Didaktiker vor allem aus der BRD. Es kam zu einem Paradigmenwechsel, auch als Reaktion auf die durch Th. W. Adorno ausgelösten musikpädagogischen Diskurse: Man rückte ab vom Primat des aus der Musischen Erziehung übernommenen Singens und Musizierens, das Hören von Musik bekam zusehends wichtigere Bedeutung. Michael Alt forderte 1968 in seiner Didaktik der Musik eine Orientierung am Kunstwerk, der bereits erwähnte Dankmar Venus folgte ein Jahr später mit seiner Unterweisung im Musikhören und legte mit den fünf gleichberechtigten Umgangsweisen mit Musik, nämlich Produktion,
Reproduktion, Rezeption, Reflexion, Transposition (Venus, 1969, S. 21-22) eine weit über seine Zeit hinausreichende und im Grunde bis heute gültige Orientierung für den schulischen Musikunterricht fest. In die gleiche Zeit fiel auch Heinz Antholz Konzeption Unterricht in Musik, die der Hörerziehung einen zentralen Stellenwert einräumte. So sollten „1. Instruktion über Grundlagen der Musik- und Formenlehre (hörendes Werken), 2. Rezeption von Musikwerken (Werkhören), 3. Reproduktion von Musikstücken (hörendes Nachgestalten), 4. Information über Musikkultur in der Industriegesellschaft (Hörorientierung)“ (Antholz 1971 zitiert nach Ott, 2016, S. 40) einen zeitgemäßen Musikunterricht prägen.

Auditive Wahrnehmungserziehung

Eine Abkehr von der Kunstwerkorientierung und die Berücksichtigung der klingenden Umwelt der Schüler*innen forderte ab 1972 die Auditive Wahrnehmungserziehung. „Ausgangspunkt musikunterrichtlichen Handelns sollten Klang­ereignisse in der Umwelt sein. Ganz elementar sollten die Lernenden zunächst einen Musikbegriff in Abgrenzung vom Geräusch entwickeln. Neue Musik, an der dieser Unterschied problematisiert werden konnte, spielte in dieser Konzeption eine herausragende Rolle, während die klassische Musik eher eine Randerscheinung darstellte“ (Biegholdt, 2019, S. 7-8). Einen entscheidenden und nachhaltigen Impuls erhielt die Musikdidaktik Mitte der 1970er Jahre mit dem Werk Hören und Verstehen – Theorie und Praxis handlungsorientierten Musikunterrichts von Rauhe, Reinecke und Ribke, das den handelnden Umgang mit Musik wissenschaftlich begründete. „Dementsprechend sollte im Unterricht der lebendige, handelnde, gleichermaßen kognitive, affektive und psychomotorische Umgang mit Musik im Mittelpunkt stehen“ (Schattel, 2016, S. 8). Ein Verstehen von Musik durch das Handeln war die Zielperspektive. Hören und Verstehen wurden nun nicht primär als kognitive, „sondern vor allem als handlungsbezogene Prozesse gewertet […]. Musikalisches Handeln muß im Zusammenhang gesehen werden mit kommunikativen und interaktiven Prozessen. Der Hörer tritt sozusagen in ein kommunikatives Wechselverhältnis mit dem gehörten Musikwerk ein, indem er es im Sinne seiner Hörgewohnheiten interpretiert, und er tut dies nicht als Einzelperson, sondern als Mitglied einer Gruppe“ (Fischer, 1994, S. 106).

Handlungsorientierte Vermittlung wurde zum Schlagwort, wiewohl es derartige Praxen ohne Zweifel auch davor gab.  Es dauerte allerdings (oder dauert es immer noch an?), bis Musik und ihre dahinterstehende Theorie in der curricularen Ausrichtung und der kompetenzorientierten Vermittlung aus der und über die handelnde/n Praxis vermittelt wird.

3 Kompetenzen in Musik und das österreichische Kompetenzmodell

Kompetenzen

Eine handlungsorientierte Musikpädagogik war in Österreich auch zentraler Ansatzpunkt für einen kompetenzorientierten Vermittlungszugang und ein zu entwickelndes Kompetenzmodell. In einem mehrjährigen Arbeitsprozess bemühten sich mehrere Arbeitsgruppen (besetzt mit Musikpädagog*innen an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, Fachinspektor*innen, aktiven Schulmusiker*innen in den jeweiligen Schulformen, Mitarbeiter*innen des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens) um die Formulierung eines Kompetenzen-Katalogs für das Schulfach Musik. Diese wurden für die Primar- sowie die Sekundarstufe I und II ausgearbeitet. „Somit steht ein Gesamtkonzept für den Musikunterricht an österreichischen Schulen, aufbauend von der Volksschule bis hin zur standardisierten Reife- und Diplomprüfung zur Verfügung“, wie es die damalige Projektleiterin und Fachinspektorin Marialuise Koch formuliert (AGMOE, 2013, S. 5). Das Fach Musikerziehung dürfte übrigens das einzige Unterrichtsfach sein, das als sogenanntes „Nebenfach“ (im Vergleich zu den mit Bildungsstandards versehenen „Hauptfächern“ Deutsch, Mathematik, Englisch) Kompetenzformulierungen von der Primarstufe bis zur Reifeprüfung aufweist.
Das im Zuge der Kompetenzen-Formulierungen entstandene Kompetenzmodell (das je nach Entwicklungsstufe geringfügig verändert und adaptiert wurde) stellt das musikalische Handeln, also einen handlungsorientierten Musikunterricht in den Mittelpunkt. Die drei zentralen Handlungsfelder sind dabei:

  • Singen & Musizieren
  • Tanzen & Bewegen
  • Hören & Erfassen

Singen & Musizieren – Tanzen & Bewegen – Hören & Erfassen

Im Zentrum einer Kreisdarstellung steht „Musikalisches Handeln & ästhetische Erfahrung“. Die nächstäußere Ebene ist in die drei Teile „Singen & Musizieren“, „Tanzen, Bewegen & Darstellen“ sowie „Hören & Erfassen“ aufgeteilt. Die äußere Kreisebene enthält die Begriffe „Interagieren & Gestalten“, „Improvisieren & Erfinden“, „Lesen und Notieren“ sowie „Informieren & Reflektieren“. Außerhalb des Kreises werden die fünf Kompetenzbereiche genannt: kommunikative Kompetenz, interkulturelle Kompetenz, personale Kompetenz, soziale Kompetenz, Methodenkompetenz.
Abb. 1: Kompetenzmodell für die Primarstufe (nach AGMOE, 2013, S. 7)

Interagieren & Gestalten – Improvisieren & Erfinden – Lesen & Notieren – Informieren & Reflektieren

Die zentralen Handlungsfelder sind auch Basis und Ausgang für die Vernetzung zu den im äußeren (gelben) Kreis angeführten weiteren Teilbereichen der Musikerziehung:

  • Interagieren & Gestalten
  • Improvisieren & Erfinden
  • Lesen & Notieren
  • Informieren & Reflektieren

Für das zentrale Handlungsfeld Hören & Erfassen sind folgende (möglichst zu erwerbende) Kompetenzen formuliert (AGMOE, 2013, S. 9):

Schülerinnen und Schüler können

  • Stille bewusst wahrnehmen
  • Geräusche und Klänge orten, unterscheiden und benennen
  • musikalische Parameter unterscheiden und benennen (hoch – tief, laut – leise, schnell – langsam)
  • beim Singen und Musizieren aufeinander hören
  • Musik aufmerksam und bewusst hören
  • eine Auswahl von Instrumenten visuell und akustisch erkennen
  • Höreindrücke verbal, bildnerisch oder mit Bewegung ausdrücken
  • die Funktion und Wirkung von Musik in ausgewählten Beispielen wahr­nehmen und beschreiben
  • als Besucherinnen und Besucher von entsprechend vorbereiteten Musik­veranstaltungen am Kulturleben teilnehmen

unterscheiden und benennen

Diese Formulierungen sind sehr allgemein gehalten und listen nicht etwa konkrete Übungen oder Unterrichtskonzeptionen auf. „Der Katalog bietet Orientierungshilfen in der Planung und unterstützt die Pädagoginnen und Pädagogen, die Potentiale der Kinder für die Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen“ (AGMOE, 2013, S. 7).

4 Perception – Cognition – Audiation

anatomische, physiologische Seite der Wahrnehmung

Der Mensch nimmt die Welt mit mehreren Sinnen wahr. Mit Perception wird die Gesamtheit von Vorgängen der Wahrnehmung bezeichnet. Brunner versteht im Bereich des Hörens darunter die rein anatomische und physiologische Seite der Wahrnehmung (Brunner, 2015, S. 200); der Erkenntnisakt, die „erkennende Verarbeitung“ (Weidner, 2018, S. 315) – die Cognition – interpretiert das Gehörte und ordnet es in bereits bekannte Schemata und Strukturen ein (Brunner, 2015, S. 200).

pattern matching

Das Hören als das Erleben einer persönlichen Wirklichkeit vergleicht, ordnet ein, gleicht ab und entwickelt neue Strukturen. „Es beruht auf dem, was wir bereits kennen bzw. gehört haben. Es erfolgt ein Abgleich (pattern matching) mit bereits vorhandenen kognitiven Strukturen, sogenannten mentalen Repräsentationen“ (Brunner, 2015, S. 200). Wenn wir also Musik hören, „setzt automatisch ein Such-Prozeß ein, bei dem wir das Gehörte auf eine bereits vorhandene Struktur beziehen und dadurch als etwas (nämlich als ähnlich, gleich oder verschieden zu dem, was wir schon kennen) identifizieren oder in einer bestimmten Weise deuten (z. B. einen schrillen Ton als Warnsignal oder als Bestandteil einer Komposition)“ (Gruhn, 1995, S. 200).

Der amerikanische Musikpsychologe Edwin Gordon prägte in den 1970er
Jahren den Begriff der Audiation. Damit gemeint ist die „grundlegende Fähigkeit des Aufbaus mentaler Repräsentationen von musikalischen Elementen (patterns)“ (Gruhn, 1994, S. 108). Demnach erwerben Kinder die Fähigkeit, Musik innerlich zu hören und zu verarbeiten, ohne dass Musik real erklingt oder diese bereits verklungen ist. Audiation „meint hierbei die Fähigkeit, (in) Musik zu denken und das gehörte Phänomen in einen musikalisch-syntaktischen Gesamtzusammenhang einordnen zu können“ (Edwin E. Gordon-Gesellschaft, 2020)

Enkulturation

Nun ist die hörende Wahrnehmung der Umwelt und ein dementsprechender Aufbau eines persönlichen Hörvokabulars und einer eigenen Hörwelt sehr stark von den persönlichen Hörerfahrungen und -einflüssen geprägt, denn die „inneren Vorstellungen werden im Laufe der Zeit in sozialen und kulturellen Kontexten erworben und sind interindividuell verschieden. D.h., Hörwahrnehmung ist stark von der Art und Weise der Aneignung der jeweiligen Kultur (Enkulturation) geprägt“ (Brunner, 2015, S. 200). Das ist vor dem Eintritt in Kindergarten und Schule primär natürlich das familiäre Umfeld, das bereits pränatal und in den ersten Lebensjahren die „hörende Erfahrung von Welt“ prägt. Dementsprechend kommen Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen von Perception und Cognition in die Bildungsinstitutionen.

5 Hören als didaktisches Handlungsfeld der Musikpädagogik

5.1 Entwicklungen

Solmisation

Grundsätzlich wird terminologisch zwischen einer technischen und auf bestimmte Strukturelemente der Musik (wie Rhythmik, Melodik, Akkordik) bezogenen Gehörbildung, bei der er es vor allem um „systematische Lern- und Übesequenzen zur Bestimmung von Intervallen, Rhythmen, Skalen, Akkorden und Akkordprogressionen“ (Gruhn, 1994, S. 110) geht, und einer breit angelegten Hörerziehung unterschieden (Weidner, 2018, S. 315). Die Historie einer diesbezüglichen musikpädagogischen Praxis stellte vorerst primär die Gehörbildung im Gesangs- (Vor- und Nachsingen) und Instrumentalunterricht (auditive Wahrnehmung) ins Zentrum. Vermittlungsmethoden – wie etwa die bereits im Mittelalter aufgekommene und in der heutigen Musikpädagogik wieder sehr populäre und propagierte Solmisation – verbinden eine gezielte Gehörbildung mit der Musikpraxis.

auditive Wahrnehmungserziehung

Eine Entwicklung zur Hörerziehung als weit gefächertes didaktisches Handlungsfeld erfolgte dann wie erwähnt mit dem Aufkommen der „technischen Mittler“ in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Schulfach Musik mutierte vom „Singe- zum allgemeinbildenden Musikunterricht“ (Weidner, 2018, S. 317). Eine Didaktik des Werkhörens, der Kunstwerkorientierung und Kunstwerkvermittlung musste entwickelt werden und nahm zusehends mehr Raum im schulischen Musikunterricht ein. Der „hörende Umgang mit Musik“ erhielt abseits der Kunstwerkorientierung neue Dimensionen mit dem Einbezug alles akustisch Wahrnehmbaren im Rahmen der Auditiven Wahrnehmungserziehung. „Alles Auditive wird nun potentieller Lern- und Erfahrungsgegenstand, also auch z. B. Geräusche, Signale, sowie Musik anderer Kulturen und Traditionen“ (Jank, 2005, S. 54). Zudem dröhnten viele neue Klänge im Klassenzimmer: Die Rock- und Popmusik nahm breiteren Raum ein und musste sich erst adäquate Vermittlungskonzepte im schulischen Musikunterricht erkämpfen: in der Musikpraxis, im musiktheoretischen Umgang, aber auch in der Hörerziehung.

Globalisierung – Digitalisierung

Gegenwärtig spielen für eine breit angelegte Hörerziehung zudem Aspekte der Globalisierung, der Migration und der Digitalisierung eine bedeutende Rolle.

5.2 Voraussetzungen und Tatsachen

Heranwachsende Kinder leben in einer digitalisierten Welt und sind visuell sowie akustisch sehr gefordert, mitunter sicher überfordert. Ohren können nicht geschlossen werden und sind immer offen, sie sind also dauerbelastet. Ein lokaler Fernsehsender rief schon vor einigen Jahren Kinder dazu auf, ein Video von ihrem Lieblingsplatz zu übermitteln. Beeindruckend war hier der Beitrag eines Volksschulkindes (letztendlich auch zum Siegervideo erklärt), der auf einem ruhigen, einsamen Platz inmitten der Natur gedreht wurde. Das Kind erklärte diesen Ort zum Lieblingsplatz, weil es hier so still war und man nicht laufend gestört wurde.

Die medialen und digitalen Rahmenbedingungen innerhalb einer Familie sind in unserer Gesellschaft durchwegs sehr vielfältig. Die bereits erwähnte KIM-Studie aus dem Jahr 2018 weist für Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren in den Haushalten eine „Vollausstattung bei Fernseher, Internetzugang sowie Handy/Smartphone“ (mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2018, S. 9) aus. Ca. 50% der Kinder in diesem Alter besitzen laut Angaben ihrer Eltern ein Smartphone, zusätzliche 13% ein „einfaches Handy“ (S. 10).

Es ist also Tatsache, dass Kinder mit mannigfachen (auch musikalischen) Hörerfahrungen und Höreindrücken in die Grundschule kommen. Durchaus je nach Enkulturation (Familie, Freundes- und Bekanntenkreis, Kindergarten) mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Prägungen. Im Grundschulalter sind Kinder noch relativ offenohrig und für unterschiedlichste Musikstile und -genres zu begeistern. Diese Toleranz nimmt allerdings mit zunehmendem Alter ab (Brunner, 2015, S. 202). Die Hörwelt von Kindern heutzutage ist in den seltensten Fällen von sogenannter klassischer Musik (mit)geprägt, vielmehr ist es die aktuelle Popularmusik, die medial auf allen Kanälen sehr präsent ist und dementsprechend auch Schüler*innen schon in der Primarstufe beeinflusst und begeistert.

5.3 Folgerungen für den Musikunterricht

Dem Musikunterricht wird mitunter vorgeworfen, dass er sich zu wenig an den Lebenswelten und Interessen von Schüler*innen orientiere, deswegen auch an fehlender Akzeptanz leide und auf der Beliebtheitsskala eher im unteren Bereich angesiedelt ist. Diese Feststellung belegen allerdings Studien, die zumeist mit älteren Kindern durchgeführt wurden (Brunner, 2015, S. 202). In der Primarstufe hat das Schulfach Musik dagegen in allen Teilbereichen noch einen sehr breiten Handlungsspielraum, egal ob beim Singen, Musizieren, Bewegen, Gestalten und auch beim Hören.

mündliche Sprachrezeption (Hören)

Hören ist auch bewusstes Zuhören. Daran krankt es in unserer Multi-Media-Ablenkungsgesellschaft sehr. Darunter leidet auch der schulische Unterricht, nicht nur der Musikunterricht. Pädagog*innen berichten von zunehmenden Problemen im Zusammenhang mit Konzentrations-, Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit bei Kindern. Gerade die Musikpädagogik kann mit basalen Übungen zu Geräuschen und Klängen, auch mit bewusster Hinführung zu Ruhe und Stille wertvolle Beiträge leisten. Der Gesamtunterricht in der Grundschule erlaubt hier ein fächerübergreifendes, vernetztes Denken und Arbeiten. Im Rahmen der Bildungsstandards findet sich beispielweise für das Fach Deutsch, Lesen, Schreiben im Themenheft für den Kompetenzbereich Hören, Sprechen und Miteinander-Reden eine diesbezügliche Annäherung: „Der Kompetenzaufbau im Bereich der mündlichen Sprachrezeption (Hören) umfasst Übungen zur außersprachlichen akustischen Wahrnehmung (z. B. Geräusche und Tonhöhen unterscheiden, Richtungshören …)“ (BIFIE, 2017, S. 5).

Das Aufkommen der Technik bot neue Möglichkeiten für den hörenden Umgang mit Musik. Damals wurden Pädagog*innen noch bewundert, wenn sie einen oftmals krachenden Plattenspieler oder Kassettenrekorder mit in die Klasse brachten und Schüler*innen „etwas Schönes“ vorspielten. Schulischer Medieneinsatz fasziniert Kinder in Zeiten von Smartphone, Internet, Youtube und Spotify logischerweise nur mehr periphär. Hier können beinahe nur mehr außergewöhnlich interessante Angebote für Aufmerksamkeit und Anregung sorgen. Kinder sind diesbezüglich abgestumpft. Also müssen sie neu sensibilisiert und aktiviert werden. Handlungsorientierung ist das Schlagwort für eine aktive Musikerziehung und Musikbegegnung – auch im Bereich des Hörens. Es sind die Zeiten vorbei, in denen die Schüler*innen in starrer Haltung in Bänken sitzen und Musik hören, die ihnen vorher erklärt wurde. Es geht um eine aktive, persönliche Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Objekt.

Offenohrigkeit

Die hörende Beschäftigung mit Musik muss möglichst breit gestreut und vielfältig sein sowie möglichst viele Musikgattungen beinhalten bzw. tangieren. Dies reicht von der sogenannten klassischen Musik über Volksmusik, Popularmusik, Weltmusik bis zu experimenteller Musik. Musikhören ist immer auch in Verbindung mit den weiteren Teilbereichen des Musikunterrichts – also mit dem Singen, Musizieren, Bewegen und Gestalten – zu sehen. Dabei ist zu bedenken, dass einerseits bei entsprechender Vermittlung Kinder in diesem Alter für vieles zugänglich sind (Stichwort Offenohrigkeit), es andererseits aber auch einen Musikunterricht in der Sekundarstufe gibt, der weiterführt und Kompetenzen erweitert. Eine altersgemäße Auswahl zur Werkbegegnung darf (oder muss) mitbedacht werden. Wenn mitunter der Vorwurf laut wird, die Musikerziehung sei immer noch zu sehr an einem klassischen Werkkanon orientiert, sie bedenke zu wenig die kindliche Lebenswelt und müsse sich doch an dem orientieren, was gefällt, dann wird dies mitunter stimmen. Aber nur teilweise. Kinder können oft nicht wissen, was ihnen denn gefallen würde, wenn sie nie mit Neuem konfrontiert werden und ihnen keine entsprechend gut aufbereitete Begegnung mit dem Musikwerk ermöglicht wird.

Pädagog*innen eröffnen die musikalische Welt

Als Pädagog*innen müssen wir ihnen auch hörend neue musikalische Welten eröffnen und dürfen dabei sehr wohl ein zukünftiges Publikum mitdenken, das Orchesterkonzerte, Musiktheater-Aufführungen oder Kammermusikabende besucht. In diese Kerbe schlägt auch der deutsche Musikpädagoge Georg Biegholdt: „Eine Aufgabe des Musikunterrichtes ist es, Kultur – und damit auch traditionelles Musikgut – an nachfolgende Generationen weiterzugeben und lebendig zu erhalten. Das funktioniert nur mit interessierten Hörerinnen und Hörern, die diese Musik vergangener Zeiten rezipieren und ihr im Hier und Jetzt etwas abgewinnen können. Zum Einsatz für das aktive Musikhören kommt jedoch keineswegs nur klassische abendländische Musik, sondern Musik aus allen Zeiten, Genres, Kulturen (Biegholdt, 2020).“

5.4 Ziele einer bewussten Hörerziehung

aktives Musikhören

Die Ziele einer bewussten musikalischen Hörerziehung können sehr vielfältig sein. Der Kompetenzkatalog im Zusammenhang mit dem österreichischen Kompetenzmodell (siehe Abschnitt 3) gibt hier für die heimische Musikerziehung eine Orientierung vor. Die Formulierungen sind offen und müssen von Pädagog*innen mit Inhalten, Methoden, didaktischen Handlungsmustern und konkreten Planungen umgesetzt werden. Es ist beispielsweise kein musikalischer Werkkatalog definiert oder angeboten, den es zu verfolgen oder aufzubauen gelte.

Als zentrales Ziel steht jedenfalls ein aktives Musikhören im Zentrum, wobei der Begriff aktiv durchaus ambivalent betrachtet und diskutiert werden kann. Biegholdt stellt im Gegensatz zu einem passiven Musikhören die Selbsttätigkeit der Schüler*innen in den Vordergrund: „Aktives Musikhören – als ein Bestandteil des Musikunterrichts – ist die von der Lehrperson initiierte und beförderte selbsttätige Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit erklingender Musik. Beim aktiven Musikhören vollzieht sich die Musikrezeption unter Nutzung der übrigen Umgangsweisen mit Musik: Produktion, Reproduktion, Transposition/ Transformation und Reflexion. Ziele des aktiven Musikhörens sind die Erschließung konkreter Musikstücke in Bezug auf ihren emotionalen und/oder programmatischen und/oder strukturellen Gehalt sowie der Aufbau eines Methodenrepertoires zum selbstständigen Erschließen von Musik“ (Biegholdt, 2019, S. 10).

Biegholdt bezieht sich in seiner Definition hiermit auf die von Venus festgelegten Umgangsweisen mit Musik und gibt damit zusammenhängend einen strukturierten Überblick über Methoden eines aktiven Musikhörens:

Abb. 2:  Rezeption als aktives Musikhören (Biegholdt, 2019, S. 13)

Die tabellarische Übersicht enthält eine Vielzahl von handlungsorientierten Zugängen zu einem aktiven Hören, wobei diese Zusammenstellung generell für das Schulfach Musik in allen Altersstufen Geltung hat. Für die Primarstufe können zweifellos nicht alle Zugänge gleichermaßen berücksichtigt werden, aber ein guter Teil darf als gewinnbringende Anregung für eine vielfältige Hör­erziehung gewertet werden.

Die hörende Auseinandersetzung mit Musik – auch über die Primarstufe hinaus – soll nicht nur neue Welten für heranwachsende Kinder und Jugendliche eröffnen, sondern sie auch zu einem „kritischen Hörkonsum“ befähigen. Dies betrifft die physiologische (Hörapparat und damit zusammenhängende Gefahren durch falsches = schädigendes Hörverhalten) wie auch die psychologische Seite (Wahrnehmen, Einordnen, Analysieren und Bewerten von Geräuschen und Klängen) des Hörens. Der schulische Unterricht sollte sich um mündige Hörer*innen bemühen, die sich für tradiertes musikkulturelles Erbe begeistern lassen und offen für vielfältigste Musikgenres aus unterschiedlichen Kulturen sind. Dabei sind in der Grundschule die Sensibilisierung von sensorischen Wahrnehmungsfähigkeiten und eine Verbesserung der Hörkonzentration basale Ansatzpunkte, wie es Kocina bereits 1991 als vorrangige Ziele für die Hörerziehung erkannt hat (Ebner, 2015, S. 168).

Sensibilisierung von sensorischen Wahrnehmungsfähigkeiten

Wie mehrfach erwähnt hat der hörende Umgang mit Musik viele Aspekte mit Verästelungen in die verschiedenen didaktischen Handlungsfelder der Musikpädagogik, aber auch über das Fach Musik hinaus. Eine diesbezügliche Förderung kann und soll bei Schüler*innen ein sensibles Gehör für Geräusche und Klänge aller Art – nicht nur im Zusammenhang mit der Erziehung zur Musik – entwickeln. Doch auch der musikimmanente Aufbau der Hörkompetenzen ist wesentlich:

  • ein Vokabular für die Beschreibung von Musik entwickeln
  • Tonparameter kennen-, unterscheiden und anwenden lernen
  • Instrumente und ihren Klang kennen- und unterscheiden lernen
  • altersgerecht aufbereitete Musikwerke aus verschiedenen Epochen kennenlernen
  • Einblicke in formale Strukturen von Musik gewinnen
  • Einblicke in Zusammenhänge von Musik – Person – Zeit gewinnen
  • Musiker*innnen nicht nur digital, sondern auch in der Klasse bzw. im Konzert­rahmen erleben

Die Aufgaben und Inhalte einer zeitgemäßen Musikpädagogik sind vielfältig. Mitunter sind Lehrpersonen diesbezüglich im Gewissenskonflikt, wo und wie hier die Prioritäten festzulegen sind. Singen, Musizieren, Bewegen, Tanzen und Darstellen, Hören und Erfassen sind im österreichischen Kompetenzmodell als zentrale Handlungsfelder gleichberechtigt und bedingen einander. Die curri­cularen Inhalte scheinen das Schulfach mitunter zu überfordern. Vielleicht wird aber gerade das Hören mit seinen vielfältigen didaktischen Möglichkeiten mitunter etwas stiefmütterlich behandelt und müsste mehr Raum bekommen. Das Schulfach Musik kann jedenfalls als Ohrenöffner fungieren und eine facettenreiche sowie spannende hörende Begegnung mit der Welt ermöglichen.

Literatur

  • AGMOE. (September 2013). Kompetenzen in Musik. Musikerziehung.
  • Antholz, H. (1970). Unterricht in Musik. Düsseldorf: Schwann.
  • Biegholdt, G. (2019). Aktives Musikhören . Innsbruck – Esslingen- Bern-Belp: Helbling.
  • Biegholdt, G. (2020). Musik in der Grundschule. (L. Verlag, Herausgeber) Abgerufen am 7. Mai 2020 von https://www.grundschule-musik.de/blog/musik-aktiv-hoeren/post/aktives-musikhoeren-in-der-grundschule/
  • BIFIE. (2017). Themenheft für den Kompetenzbereich „Hören, Sprechen und Miteinander-Reden“. Abgerufen am 7. Mai 2020 von https://www.bifie.at/wp-content/uploads/2017/06/bist_de_vs_themenheft_hsm_2011-11-14.pdf
  • Brunner, G. (2015). Musik hören: Wahrnehmen, gliedern und reflektieren. In M. Fuchs, Musikdidaktik Grundschule (S. 200-217). Rum/Innsbruck – Esslingen: Helbling.
  • Cyrmon, A. (2019). Handlungsbegleitetes Musikhören im Unterricht der Primarstufe. Abgerufen am 13. Mai 2020 von https://journal.ph-noe.ac.at/index.php/resource/article/view/613
  • Ebner, M. (2015). Musikhören: Werkhören. In M. Loritz, & C. Schott (Hrsg.), Musik – Didaktik für die Grundschule (S. 166-179). Berlin: Cornelsen.
  • Edwin E. Gordon-Gesellschaft. (3. Mai 2020). Von https://www.gordon-gesellschaft.de/ abgerufen
  • Fischer, W. (1994). Handlungsorientierter Musikunterricht. In S. Helms, R. Schneider, & R. Weber, Neues Lexikon der Musikpädagogik – Sachteil (S. 105-107). Kassel: Bosse.
  • Gruhn, W. (1994). Hörerziehung. In S. Helms, R. Schneider, & R. Weber, Lexikon der Musikpädagogik – Sachteil (S. 108-110). Kassel: Bosse.
  • Gruhn, W. (1995). Hören und Verstehen. In S. Helms, R. Schneider, & R. Weber, Kompendium der Musikpädagogik (S. 196-222). Kassel: Bosse.
  • Jank, W. (2005). Musik Didaktik. Berlin: Cornelsen.
  • Liedtke, R. (1988). Die Vertreibung der Stille. München: dtv.
  • mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. (2018). KIM Studie 2018. Abgerufen am 29. April 2020 von https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2018/KIM-Studie_2018_web.pdf
  • Nagiller-Rendl, E. (2020). Innsbruck cantat. Mozarteum Salzburg – Department Innsbruck.
  • Ott, T. (2016). 45 Jahre Unterricht in Musik – Versuch einer Rekonstruktion. In J. Knigge, & A. Niessen (Hrsg.), Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft (S. 29-44). Münster; New York: Waxmann.
  • Rauhe, H., Reinecke, H.-P., & Ribke, W. (1975). Hören und Verstehen. Theorie und Praxis handlungsorientierten Musikunterrichts. München: Kösel.
  • Schattel, P. W. (2016). Positionen der Hörerziehung im 20. und 21. Jahrhundert. Abgerufen am 20. Mai 2020 von https://schott-campus.com/wp-content/uploads/2018/12/II4_Schatt.pdf
  • Venus, D. (1969). Unterweisung im Musikhören. Wuppertal: Henn.
  • Weidner, V. (2018). Musikhören als didaktisches Handlungsfeld. In M. Dartsch, J. Kingge, A. Niessen, F. Platz, & C. Stöger, Handbuch der Musikpädagogik (S. 315-318). Münster-New York: Waxmann.
Peter Kostner

Ich arbeite als Dozent für Musikpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Tirol.

Dort beschäftige ich mich mit einer vielfältigen, handlungsorientierten Musikpädagogik. Diese betrifft auch eine konzentrierte und aktive Hörerziehung.

Es ist mir ein Anliegen, dass Kindern einer mitunter sehr kopflastigen und medienorientierten Welt über vielfältige didaktische Vermittlungsmethoden auch der Zugang zum „Musischen“ vermittelt wird. Darin ist ein staunendes, erlebnisorientiertes Hören enthalten.