Einleitung
Die kleine Geschichte von Kasperls Traum“ ist inspiriert von den „cosmic tales“ im Sinne Maria Montessoris Montessoris (Eckert, E., & Fehrer, M., 2006; Leonard, G., 2018). Die Erzählung entwickelt einen panoramaartigen Blick aufs Ganze, die den Weg von der Schallquelle bis zur Verarbeitung im Gehirn spürbar macht – es geht um das Verdichten, das Verdünnen der Luftmoleküle (Schallwelle), den Aufbau des Ohres und seine Funktion und das Entschlüsseln der gewonnen Informationen im Gehirn. Die Geschichte übersetzt den abstrakten und missverständlichen Begriff „Schallwelle“ in (nicht nur) kindliche Spürerfahrungen. Im Fokus steht die durchgehende Beschreibung des „Wackelns“ – Kasperl, Seppel, verschiedene Häute, die Flüssigkeit im Schneckenhaus, alle wackeln – fachlich korrekt und essentiell für das Verstehen des Hörprozesses.
Spannend und rätselhaft – der Einstieg ins Thema, ein Text, aus dem Bilder im Kopf entstehen, mit Geruch, mit Schimmer und „Wackeln“. Bewegende Bilder, die den kindlichen Forschergeist neugierig machen.
Eine Geschichte will erzählt und gehört werden. Die Sprache dieser Erzählung ist deshalb eine „erzählende“ und „gesprochene“, eine, die rückfragt, eine, die im Kontakt sein will und Sie mitnehmen wird.
Kasperls Traum gehört erzählt
Den Kasperl, den muss ich euch nicht vorstellen – lustiges Gesicht, Sommersprossen, rote Zipfelmütze – den kennt ihr. Und seinen Freund, den Seppel – den mit dem grünen Seppelhut – den kennt ihr auch. Dann geht’s los.
Wart ihr schon mal so richtig müde? Richtig hundemüde? Ganz und gar müde? Das ist nämlich so: Einmal ist der Kasperl so müde, er sieht noch mit einem letzten Blick, dass die Großmutter gerade die Hand auf die Kurbel ihrer musikalischen Kaffeemühle legt und beginnt, … und da atmet er tief ein … und im nächsten Moment ist er schon eingeschlafen – tief und fest. Und wie so oft kommt im tiefen, festen Schlaf etwas daher – ihr wisst schon was:
Kasperl spürt etwas, etwas Glattes, Rundes an seinem Finger, einen Ring … mhm welchen Ring? Ah, da war doch was … Ja genau. Ja, der Ring, den ihm die Fee Amaryllis geschenkt hat (aus Dankbarkeit für ihre Befreiung aus dem Zauberschloss des fürchterlichen Zauberers Petrosilius Zwackelmann!). Ein ganz besonderer Ring – ein Wunschring, 1x drehen und an einen Wunsch denken und BLING! der Wunsch ist erfüllt. Eines weiß Kasperl ganz sicher, 5 Wünsche hat er frei – ganz sicher.
Jetzt schaut er sich um und bemerkt, dass er nicht allein ist. Er ist mit seinem Freund Seppel unterwegs in einem Wald – es ist angenehm kühl, die frische Luft duftet nach Herbst. Sie gehen hintereinander auf einem schmalen Waldweg, der ist von Wurzeln übersät und dort und da liegt schon ein buntgefärbtes Herbstblatt. Aber was tun sie da eigentlich? Sind sie wieder auf der Suche nach dem Räuber Hotzenplotz? Müssen sie Großmutters Kaffeemühle aus Hotzenplotz’ Unterschlupf zurückerobern? Nein, diesmal geht es nicht um den grimmigen Räuber und seine gemeinen Überfälle. Nein, es geht um etwas anderes, nicht minder Abenteuerliches, aber was? Kasperl und Seppel folgen dem Weg. Wohin wird er sie führen?
Da spürt der Kasperl etwas von hinten, es schiebt, es drückt, es schubst ihn richtig an – aber es ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Kasperl bleibt stehen und merkt sich genau, wo er steht – seine Schuhspitzen berühren ein durch und durch rotes Ahornblatt. Kasperl wartet – das Schieben wird stärker, er lehnt sich dagegen, aber schubs – da muss er einen Schritt nach vorn machen, aber nicht weil er will, sondern weil ihn was anschiebt. Fast im gleichen Moment spürt er das Gegenteil – einen Sog nach hinten, es zieht ihn zurück, zack – einen Schritt zurück zum Ahornblatt und noch einen Schritt weiter zurück. Und schubs – schiebt es ihn wieder vor … und er macht einen großen Schritt, so groß, dass er den Seppel gleich mitanschubst – zack und der Sog zurück, so wackelt er hin und her … lustig schaut das Gewackle sicher aus. Ja und der Seppel – der wackelt mit, vor – Blatt – zurück, vor – Blatt – zurück, vor – Blatt – zurück – schon ein bisschen schwächer.
Allmählich ist das Schieben und Ziehen nicht mehr zu spüren. Kasperl steht wieder auf dem Ahornblatt und der Seppel? Genau vor ihm.
Verdutzt schauen sich die beiden an, irgendetwas ist da zugange. Sie gehen weiter – denn jetzt treibt sie ihre Neugierde an, sie wittern ein Abenteuer. Der Weg führt sie zu einem mächtigen Felsen und endet an einer wohlgeformten, gewundenen Öffnung im Felsstein, vielleicht ein Eingang, eine Pforte? Die Form wirkt irgendwie bekannt – aber Kasperl will einfach nicht einfallen, woran ihn die Pforte erinnert. Er hat auch gar nicht viel Zeit zum Überlegen, denn der Seppel – sonst oft ein bisserl zaghaft, fast hasenpfotig – schreitet mutig ins Innere des Felsens.
Kasperl beeilt sich und findet den staunenden Seppel in einem schmalen niedrigen Gang. Gedämpftes Licht, sehr warme Luft, eine bernsteinfarbene klebrige Masse – sie fließt ganz langsam nach außen und dort, wo sie war, ist es ganz sauber – wie frisch aufgewischt. Da kommt es wieder, dieses unbeschreibliche Irgendwas, dieses Schubsen und Zurückziehen, Schubsen und Zurückziehen, erst wackelt der Kasperl sanft und dann wieder fest vor und zurück, vor und zurück – und der Seppel, der wackelt auch, genauso.
Ah, da vorne scheint der Gang zu Ende zu sein, Kasperl und Seppel wackeln näher und näher und stehen vor einer wunderschön zarten, geheimnisvollen, hauchdünnen Wand – nein, Wand stimmt nicht, das zarte Etwas bewegt sich nämlich, wie bei einer Trommel – es wölbt sich nach innen und dann wieder nach außen, und nach innen und nach außen … Kasperl und Seppel ahnen, dass das noch nicht das Ende des Weges ist – da, hinter dieser zarten … Haut muss noch etwas sein. Seppel schaut Kasperl fragend an. Was glaubt ihr? Welche Idee blitzt da in Kasperls Kopf auf? Genau – der Ring, der Wunschring, Kasperl steckt ihn an seinen Finger, dreht ihn und denkt fest an seinen Wunsch! BLING!
Da sind sie nun in einem engen Raum. Ihr Blick fällt auf 3 imposante Felsen – der erste berührt die feine Haut und dann geht‘s der Reihe nach – noch ein Felsen und noch einer. Die sind alle 3 miteinander verbunden. Kasperl reibt sich die Augen, weil er’s nicht glauben kann, was er da sieht, also wenn er‘s nicht mit eigenen Augen sehen würde … die Felsen wackeln auch, ja, da habt ihr schon richtig gehört, die Felsen, die wackeln auch, genauso wie die Haut den ersten Felsen anschubst, so schubst der weiter und der nächste schubst den letzten und dann wieder zurück – tack, tack, tack! Jetzt wackeln sie gar alle – die Haut, die Felsen, der Kasperl und der Seppel.
Der Raum ist so klein, dass er gleich wieder aus ist und wenn du nicht ganz genau schaust, dann übersiehst den Ausgang. Ja, dann würdest du glauben, jetzt ist‘s aus mit dem Abenteuer – aber der Kasperl und der Seppel entdecken ein kleines Fenster, nicht wie eines aus dem Haus von der Großmutter, nein, nein, das musst du dir ganz anders vorstellen: Es ist so ein bisschen wie ein Ei, nein, eigentlich oval, so heißt das, und nicht mit Glas drinnen, sondern – du ahnst es schon – ein Fenster mit einer zarten Haut statt starrem Glas. Und der letzte Felsen, der pocht immer wieder an dieses Fenster – jedes Wackeln trifft genau ins Fenster. Es kann noch nicht vorbei sein, da muss noch was sein …
Seppel und Kasperl schauen sich in die Augen und gemeinsam zählen sie rückwärts 3, 2, 1 und – ihr wisst es schon – Ring drehen, fest wünschen und BLING!
Unglaublich, was sich jetzt offenbart, da liegt ein wunderschönes gewundnes Etwas, rund verlaufend, im Kreis nach oben – wie ein, ja so wie ein – du weißt schon was. Na, da schauen Kasperl und Seppel ganz genau hin, denn das Wackeln von draußen – von der ersten Haut und den Felsen – geht durch das kleine ovale Fenster – und jetzt haltet euch fest – in dieses geheimnisvolle (jetzt fällt‘s mir ein) Schneckenhaus hinein. Ja wirklich! Kasperl und Seppel gehen ganz nah heran, legen ihre Hände, ihre Ohren – ihren ganzen Körper an die Schneckenwand und erahnen – da ist etwas Fantastisches dahinter – der 3. Wunsch, BLING!
Sie blicken durch die Wand hindurch, im Inneren geht das Wackeln weiter – in eine Flüssigkeit. Ja was glaubst du, was passiert, wenn da ein Wackeln in einer Flüssigkeit ist? Da entsteht natürlich eine Welle und die rollt dahin. Kasperl kneift jetzt die Augen zusammen, weil da ist noch etwas, da gibt es noch viele, viele, viele feine Härchen und da rollen die Wellen drüber. Ja schau und dann passiert es – ein ganz bestimmtes Härchen löst etwas aus – etwas wie einen Funken, aber nicht ein solcher, den man sehen kann, sondern eher so etwas unsichtbares Elektrisches … einen Impuls, einen elektrischen Im-puls und der saust mit einer unsagbaren Geschwindigkeit davon, so als hätt‘ er es so eilig – eiliger geh-t‘ s gar nimmer, als müsst er allerdringendst wohin, weil er eine ganz wichtige Botschaft hat. Und währenddessen der eine schon weggedüst ist, entsteht noch ein Impuls und noch einer und noch einer und … sie verschwinden in einem Gang, in einem Strang.
Zwei Wünsche wären noch übrig … sollen sie es wagen, einen Sprung in den Gang-Strang hinein, auf wilder Jagd den eiligen Impulsen hinterher? So weit sind sie bereits gekommen, trauen sie sich noch weiter? Kasperl und Seppel schauen sich in die Augen, sie sind sich einig – Kasperl dreht den Ring und BLING!
Plötzlich geht alles ganz schnell, in rasender Geschwindigkeit geht’s durch den Strang, vorbei an unzähligen anderen Strängen, alles ist hell, schimmert, es gibt Millionen von Abzweigungen in alle Richtungen – hoffentlich bleiben sie auf der richtigen Bahn!
Und dann sind sie da, und da hört der Kasperl … da sind Töne – warme, lustige Töne, wie kleine Glöckchen, eine Melodie, die sein Herz ganz warm macht. Die macht, dass er sich wohl und ganz daheim fühlt. Leise Knistergeräusche und duftende Knackgeräusche mischen sich darunter … die kennt Kasperl schon ganz lang und er weiß sofort, dass so Kaffeebohnen klingen, wenn sie vom Mahlwerk der Kaffeemühle zerkleinert werden … und aus dem Hintergrund, also ganz genau von der linken Seite kommend, gesellen sich freundliche Stimmen dazu … das Zwitschern von Feldsperling und Amsel, alles ist da und alles wohlgeordnet.
Kasperl kratzt sich am Kopf: „Wo bin ich denn? Und was passiert denn da?“, möchte er wissen, doch bevor er fragen kann, wacht er auf. Er liegt auf der gemütlichen Ofenbank, die Großmutter mahlt Kaffee in ihrer Kaffeemühle und die setzt bei jeder Kurbeldrehung ihre lustige Melodie fort. Durch das Küchenfenster tanzen warme Sonnenstrahlen und kitzeln Kasperls Nase und Vogelgesang dringt von draußen herein – Amsel und Feldsperling. Kasperl schließt noch einmal die Augen, er spürt den Ring an seinem Finger – einmal noch – er dreht und wünscht ganz fest, BLING!
Da ist sie, die Fee Amaryllis: „Kasperl, du hast einen langen Weg hinter dir und doch warst du immer hier, genau hier auf der Küchenbank. Weißt du noch, dein letzter Blick bevor du eingeschlafen bist … genau … die Hand der Großmutter hat die Kurbel bewegt und dann bist du den Weg gegangen von der ersten Kurbelbewegung bis zum Erkennen der wundergemütlichen Melodie, bis genau…“, und da legt die Fee ihre warmen Hände auf die Schläfen von Kasperl, „bis genau hier drinnen!“
Probiert ihr es auch gleich aus, legt eure Hände auf eure Schläfen und spürt da hinein – so wie die Fee. „Von der ersten Kurbelbewegung bis genau hier drinnen“, hallt es leise nach. Und der Kasperl sieht alles noch einmal vor sich: das Schubsen und Zurückziehen immer wieder, die Pforte, die geheimnisvolle Haut, die Felsen … er greift nach dem Ring, aber der ist ja gar nicht mehr da. Der Kasperl lächelt und seine Sommersprossen strahlen, klar, der Ring ist jetzt wieder bei ihr – ihr wisst ja genau, bei wem.
Literatur:
- Eckert, E., & Fehrer, M. (Hrsg.). (2006). Kosmische Erzählungen in der Montessori-Pädagogik: Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Montessori-Gesellschaft eV (Bd. 14). LIT Verlag Münster.
- Leonard, G. (2018). Maria Montessori’s Cosmic Stories and Contemporary Science. NAMTA Journal, 43(3), S. 32-45.
Hörtext
Kasperls Traum
Pädagogische Hochschule Tirol. (2023).
[Hörtext; edukative Geschichte].
Carina Berner sitzt mit ihrer 2b-Klasse am großen, grünen Teppich im Klassenzimmer. Die Kinder haben es sich gemütlich gemacht. Heute geht es um das Hören. Carina liest der Klasse nun eine Geschichte vor – eine Geschichte von Kasperl und Seppel und ihre abenteuerliche Reise ins Innenohr. Als Carina beginnt, sind alle Ohren gespitzt und die Kinder lassen sich ein auf dieses cosmic tale (nach Montessori)…
Sind auch Sie abgetaucht und mitgereist ins Innenohr? Spüren Sie noch immer dieses Wackeln des Schalls im Ohr? Spüren Sie die Bahnen der elektrischen Impulse? Auch Sie können cosmic tales erzählen. Zum Hören, zu anderen Themen… lassen Sie sich inspirieren!

Carina Berner
Ich arbeite als Inklusionspädagogin an der VS Innere Stadt in Innsbruck.
Dort beschäftige ich mich auch mit Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Es ist mir ein Anliegen, dass wir mit Hoffnung in
die Zukunft blicken und unser Handeln danach ausrichten.