Diese Beitrag korrespondiert mit dem Artikel von Peter Kostner „Hören in einer beschallten Welt – Musikalische Sensibilisierung in der Schule“. Die synoptische Darstellung der Druckausgabe kann mit der PDF-Version in der Doppelseitenansicht nachvollzogen werden.
Musikunterricht
Ich bin die Nummer eins im Musikunterricht, sagte schon einer, der mich gut kennt. Sein Name war Dankmar Venus.
Medienverhalten – ich stehe an der ersten Stelle
Die Kinder, sagen sie, lieben mich, mehr als fernzusehen, mehr als Freunde zu treffen, mehr als drinnen und draußen zu spielen. Selbst mehr als ihre Familie lieben die Kinder mich. Sie haben erst kürzlich nach mir gefragt, in einer Stadt in den Bergen und selbst dort war klar: Bei den Kindern stehe ich an erster Stelle.
Mein Name ist Musik.
Die Vertreibung der Stille
Lärm gibt es jede Menge in unserer Welt.
Laut ist sie geworden, unsere Welt.
Wer noch etwas hören will, muss fühlen, und fühlen, das können die Kinder mich.
Dazu müssen sie hinhören und das Lauschen wieder lernen.
Lernen, wie sie mich mit ihren Händen tanzend oder springend spüren können, wie sie mich und ich sie berühren kann. Bisweilen, wenn sie ihre Ohren spitzen, hören sie mich flüstern, sanft in ihre Ohren, und dann spüren sie, wie ich klinge, wie ich nachklinge und meine Stille all das Laute in ihnen vertreibt.
Über meine Kindheit
Musikgeschichte – meine Kindheit
Bevor es Radio gab, Fernsehen, Schallplatten, Kassetten (1950er/60er), haben die Menschen mich wenig beachtet in der Schule und im Unterricht. Gekannt haben sie mich nur durch ihre eigene Stimme, wenn sie sangen, und durch ihre eigenen Hände, wenn sie Instrumente zum Klingen brachten.
Nicht wenige haben versucht, meine Sprache zu verstehen.
Die Buchstaben meiner Sprache sind die Noten.
Die Geschichte meiner Kindheit, meiner Jugend haben sich die Menschen erzählt.
Zugehört aber haben die Menschen mir kaum.
Mir selbst, meiner Kunst haben sie wenig Beachtung geschenkt.
Produktion – Reproduktion – Rezeption – Reflexion – Transposition
Bis zu dem Tag, an dem zwei Männer kamen, mir eine Stimme zu geben.
Theodor W. Adorno und Michael Alt. Mich zu hören, sagten sie, sei neu.
In der Schule war ich neu, im Unterricht war ich neu.
Theodor und Michael waren sich einig: Mich zu hören, mir zuzuhören, verlangte nach neuen Wegen in der Kunst des Lehrens und des Lernens.
Und wie so oft im Leben, wenn die Weichen gestellt sind und die Zeit reif ist, neue Wege zu beschreiten, verlassen die Menschen die ausgetretenen Pfade.
So kam es, dass ein Mann mit Namen Dankmar Venus mich neu zu verstehen versuchte und damit den Grundstein legte für die Art und Weise, wie die Kinder im Unterricht mir begegnen sollten.
Neben dem Musizieren mit Instrumenten (Produktion), dem Nachspielen etwa von Liedern (Reproduktion) stellte er auch das Mir-Zuhören, Mich-Verstehen (Rezeption), das Über-mich-Nachdenken, das Mir-Nachspüren (Reflexion) wie auch das Mit-mir-Spielen und Über-mich-Hinausgehen (Transposition) in den Mittelpunkt meines Unterrichts.
Wenn einer bereit ist, den ersten Schritt zu machen im Leben, folgen ihm andere nach.
So folgte Heinz Antholz den Spuren Dankmar Venus.
Auch Heinz stellte das Mir-Zuhören ins Zentrum der musischen Erziehung (Unterricht in Musik).
Wie Dankmar überzeugt davon, dass die Kinder mich von verschiedenen Seiten betrachten und mich hören sollten. Zudem aber war es Heinz wichtig, dass die Kinder sich bewusst werden, wo und unter welchen Umständen ich mein Leben führte.
Er wollte den Kindern den Umgang mit mir zeigen, indem er darauf Bedacht nahm, welche Lebensumstände mich prägten (Kultur).
Auditive Wahrnehmungserziehung
Etwas Zeit strich ins Land (1972er) und ich wurde zunehmend entdeckt an Orten des Alltags (auditive Wahrnehmungserziehung). Die Menschen nahmen mich und meine Stimme wahr an Orten, wo sie zuvor nicht hingehört hatten. Und eben das – dieses genaue Hinhören – war es, wodurch die Menschen erkannten, was Geräusch und was Lärm war und was mich von beidem unterschied.
In die Mitte ihres Verständnisses meiner Natur rückte das sinnliche Wahrnehmen, das verstehende Erfahren und das gefühlsbetonte Erleben.
Endlich sahen die Menschen: Wer mich verstehen und kennen will,
muss mich begreifen mit Kopf, Herz und Hand.
Die Menschen ließen sich ein auf den Tanz mit mir.
Sie ließen sich ein auf dieses Führen und Sich-führen-Lassen, dieses wechselseitige Spiel unserer Bewegungen im gemeinsamen Takt.
Noch heute aber zweifeln die Menschen und vertrauen nicht auf den Fluss meiner Sprache.
Wer mich erkennen will, muss lernen mich zu leben – das fällt den Menschen immer noch schwer. Vor allem an Orten, die ihnen das Spüren und Nachspüren von sinnlichem Erleben kaum erlauben.
Noch immer ist solch ein Ort die Schule,
der Ort also, der die Kinder lehren soll,
das Leben zu be-greifen und es nicht nur zu verstehen.
… dann kam ich in die Schule
Kompetenzen
Dennoch.
Allen Widrigkeiten zum Trotz gab es Menschen – vornehmlich Musikpädagog*innen an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen sowie Fachinspektor*innen, aktive Schulmusiker*innen und Mitarbeiter*innen des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens in Österreich –, die sich mir und meiner wahren Natur verschrieben.
Unablässig und ohne sich beirren zu lassen von außen, hielten sie fest an dem tiefen Glauben und dem Wissen um mich und meine Kraft.
Sie arbeiteten Tag und Nacht daran, darüber nachzudenken, wie sie den Menschen begreiflich machen konnten, was es heißt,
mir zu begegnen,
mich zu verstehen
und mich zu erfahren.
So entwickelten sie in ihrer gemeinsamen Arbeit einen Katalog sowohl für die Volks- als auch die Mittelschulen und die allgemeinbildenden höheren Schulen, indem sie festhielten, welche Fertigkeiten (Kompetenzen) Kinder im Unterricht mit mir entwickeln sollten.
Marialuise Koch, eine der engagierten Fachinspektor*innen in dieser Runde, hatte die Zusammenarbeit der Gruppe damals koordiniert und war stolz, ein Gesamtkonzept für den Musikunterricht an österreichischen Schulen als Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit präsentieren zu können. Besonders stolz waren Marieluise und ihr Team darauf, dass das Fach, in dem man mich, die Musik, kennen (und hoffentlich auch lieben) lernen) darf, das einzige Fach neben Deutsch, Mathematik und Englisch war, für das Kompetenzen von Beginn der Schulzeit bis zum Ende der Schullaufbahn formuliert wurden.
Für mich ist es besonders wertvoll und schön zu sehen, worauf die Kinder im Umgang mit mir achten sollten.
Singen & Musizieren – Tanzen & Bewegen – Hören & Erfassen
Besonderes Augenmerk im Umgang mit mir legten die Expert*innen auf das praktische Arbeiten und den Umgang mit mir.
So zählten sie das Mich-Singen,
das Mich-erklingen-Lassen (Musizieren),
das Mich-Spüren durch Tanzen (Tanz & Bewegung)
sowie das Mir-Zuhören und Mich-Begreifen (Hören & Erfassen) zu den wichtigsten Fertigkeiten, die Kinder entwickeln sollten.

Interagieren & Gestalten – Improvisieren & Erfinden – Lesen & Notieren – Informieren & Reflektieren
Das Mich-Singen,
das Mich-erklingen-Lassen (Musizieren),
das Mich-Spüren durch Tanzen (Tanz & Bewegung) sowie
das Mir-Zuhören und Mich-Begreifen (Hören & Erfassen) sind der Boden und der Ausgangspunkt zu weiteren Fertigkeiten, die die Kinder durch das Arbeiten und den Umgang mit mir erreichen sollen.
Dazu gehört, dass sich die Kinder mit mir „unterhalten“ (interagieren), mit mir spielen und mich nach ihren eigenen Wünschen und Ideen formen (gestalten und improvisieren).
Dabei können sie sich in und mit mir entdecken, mich und sich neu bzw. anders erfinden.
Die Kinder lernen durch das Arbeiten und den Umgang mit mir meine Sprache kennen, mich zu lesen und mir in meiner Sprache zu schreiben (lesen & notieren).
So lernen sie mich Schritt für Schritt näher kennen (informieren) und beginnen darüber nachzudenken, was mich in meinem Wesen ausmacht (reflektieren).
Wenn es darum geht, mir zuzuhören und mich in meinem Wesen zu verstehen (Hören & Erfassen), haben die Expert*innen, also die Menschen, die mich schon sehr gut kennen, sich Folgendes überlegt:
Die Kinder sollen erfahren, dass ich auch dann zu ihnen spreche, wenn ich schweige.
unterscheiden und benennen
Wenn ich also still bin und keinen Ton von mir gebe, dann ist Zeit dafür, mich spürbar in ihnen nachklingen zu lassen (Stille bewusst wahrnehmen).
Wenn die Kinder mich näher kennen lernen, werden sie mit der Zeit auch hören lernen, wenn sich meine Stimmung ändert, mit welcher Stimme ich zu ihnen spreche,
ob ich es eilig habe oder ob ich mir Zeit lasse und sie werden sagen können, wie es mir geht (Geräusche und Klänge orten, unterscheiden und benennen; hoch-tief, laut-leise, schnell-langsam).
aufmerksam und bewusst hören
Mir ist es ganz wichtig, dass die Kinder nicht nur lernen, mir zuzuhören, sondern auch erfahren, wie wichtig es ist, einander zuzuhören und gemeinsam mit mir zu arbeiten. Sie werden gleich spüren, wie schnell ich aus dem Takt gerate, wie meine Laune sich verschlechtert, wenn ich merke, dass sie nicht aufeinander Acht geben (aufeinander hören; aufmerksam und bewusst hören).
Instrumente visuell und akustisch erkennen
Die Instrumente, so heißen meine Freunde, sind sehr unterschiedlich. Sie haben verschiedene Formen und keine ihrer Stimmen klingt wie die andere (Instrumente visuell und akustisch erkennen). Mit der Zeit also werden die Kinder auch meine Freunde kennen lernen und jede und jeden bei ihrem Namen nennen können.
Mich (er)kennen lernen
anatomische, physiologische Seite der Wahrnehmung
Menschen nehmen die Welt mit mehreren Sinnen wahr.
Die Bewegungen all ihrer Sinne sind die Gesamtheit ihrer Wahrnehmung (Perception). Wenn es um die Bewegungen der Sinne geht, wenn es um die Bewegungen beim Hören geht, kann man zwei Seiten der Bewegungen erkennen. Es gibt die Bewegungen, die im Außen beobachtet werden können, also das, was sich an und in den Körpern der Menschen bewegt, wenn sie zum Beispiel mich, die Musik, hören (anatomische, physiologische Seite der Wahrnehmung).
Dann aber gibt es noch die Bewegungen in den Köpfen der Menschen.
Diese Art der Bewegungen folgt den körperlichen Bewegungen – man könnte sagen, beide Arten der Bewegungen beginnen miteinander zu tanzen. Erst in diesem Tanz der körperlichen und der geistigen Bewegungen entsteht etwas, das die Menschen „Erkennen“ nennen.
erkennende Verarbeitung“, Cognition
Das bedeutet: Erst durch die gemeinsamen Bewegungen („erkennende Verarbeitung“, Cognition) erkennen die Menschen Muster in den Bewegungen des Körpers, und diese Muster vergleichen sie mit den Mustern, die sie bereits kennen. So können sie die Bewegungen des Körpers einordnen in solche, die ihnen bekannt sind, und solche, die ihnen unbekannt – also neu – sind.
pattern matching
Hören ist für die Menschen also ein ganz persönliches Erlebnis ihrer eigenen Welt. Die Menschen ordnen, vergleichen und entwickeln neue Muster.
Dieses Ordnen und Vergleichen hilft den Menschen dabei, bekannte Muster von unbekannten Mustern zu unterscheiden.
Vielleicht ist es – so stelle ich es mir vor – ein wenig wie Memory zu spielen.
Kennt ihr das Spiel?
Man hat viele verdeckte Bildkärtchen vor sich liegen und man beginnt damit, ein verdecktes Kärtchen aufzudecken und ein zweites. Wenn die beiden Kärtchen beim Aufdecken dasselbe Bild oder Muster zeigen, hat man ein Paar, ein „Match“ (pattern matching).
Ähnlich ist es, wenn Menschen Musik hören.
Sie hören Musik oder ein Geräusch und beginnen in ihren Köpfen danach zu suchen, ob sie diese Musik, dieses Geräusch oder etwas Ähnliches schon einmal gehört haben (z. B. einen schrillen Ton als Warnsignal oder als Bestandteil einer Komposition).
Edwin Gordon, ein Amerikaner, der sich mit mir, der Musik, und meiner Wirkung auf die Menschen beschäftigt, hat bereits in den 1970er Jahren herausgefunden, dass Kinder in der Lage sind, mich innerlich zu hören, ohne dass ich also im Außen erklinge.
Das heißt, Kinder können mich also in ihren Köpfen hören, auch wenn ich gerade schweige.
Sie er-innern sich an mich, weil sie mich verinnerlicht haben.
Sie können mich also in sich hören, allein indem sie an mich denken.
Das ist so, als sieht man einen geliebten Menschen vor sich, hört seine Stimme und kann ihn sogar riechen, obwohl der Mensch gerade nicht im selben Raum ist (Audiation).
Enkulturation
Das Wahrnehmen, wie das Merken meiner Bewegungen und der Muster, das Merken und Erlernen der Wörter meiner Sprache, ist geprägt vom Umfeld der Kinder. Wie und welche Muster sich die Kinder einprägen, hängt also damit zusammen, wo und mit welchen anderen Menschen die Kinder leben (sozialer und kultureller Kontext; Entkulturation). Die Familie, in der sie aufwachesen, der Kindergarten und die Schule, die sie besuchen, prägen die Art und Weise, wie Kinder mich wahrnehmen und welche Erfahrungen sie mit mir in der Wlet, in der sie leben, machen. Das Umfeld hat demnach einen großen Einfluss darauf, welche Voraussetzungen Kinder mitbringen, um mich wahrzunehmen (Perception), wie sie mich innerlich wahrnehmen und meine Bewegungsmuster einzuordnen lernen (Cognition).
Hört, ich bewege mich
Akkordik – Solmisation
Als Musik habe ich bestimmte Bewegungsmuster und -strukturen.
Mit der Zeit bilden die Kinder die Fähigkeit aus,
diese Muster –
meinen Rhythmen,
meine Medodien
und das Zusammenklingen meiner unterschiedlichen Töne (Akkordik) –
zu hören und zu unterscheiden.
Um diese Fähigkeit gut ausbilden zu können, sollten die Kinder vor allem ihr Gehör durch das Singen bilden (Vor- und Nachsingen) wie auch durch das Spielen von Instrumenten (auditive Wahrnehmung) schulen.
Bereits im Mittelalter wusste man um die Bedeutung davon, bestimmte Töne auf bestimmte Silben singen zu können (Solmisation). Auch heute nutzt man dies, um das Musikhören und Musikmachen miteinander zu verbinden.
auditive Wahrnehmungserziehung
In der Schule und im Unterricht begann man mich ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts umfassender zu betrachten und verstehen zu wollen. Das Schulfach, das meinen Namen trägt – Musik – entwickelte sich vom „Singe-“ zum „allgemeinbildenden Musikunterricht“. Neben dem Singen wurde das Hören von Musikstücken wichtiger.
Die Orientierung im Umgang mit und die Vermittlung von mir als Kunst(werk) rückte zusehends in das Zentrum des meines Unterrichts. Auch das Mich-Hören und Mir-Zuhören veränderte sich.
Mit dem Beginn der 1970er Jahre erweiterte sich das Interesse und alles Hörbare (z. B. Geräusche, Signale) wurde in den Unterricht miteinbezogen (auditive Wahrnehmungserziehung).
Globalisierung – Digitalisierung
Ebenso begann man, meine wilderen und ungestümeren Seiten zu entdecken und öffnete den Unterricht für Rock- und Popmusik. Der Wandel der Welt und wie die Menschen miteinander lebten, dass sie zum Beispiel ihre Wohn- und Arbeitsorte wechselten (Globalisierung), dass sie die Welt der Computer und des Internets für sich entdeckten (Digitalisierung), führte dazu, dass neue, andere Klänge, Musik aus anderen Kulturen und Traditionen Einzug in die Klassenzimmer hielten.
Ich bin viele
Einer Vielzahl von Klängen, Geräuschen und Arten von Musik begegnen die Kinder in einer vernetzten Welt heute. Es ist beinahe wie auf einem Basaar, unzählige Formen, Farben und Klänge strömen auf sie und ihre Ohren ein. Mitunter kann das durchaus dazu führen, dass Kinder überwältigt – um nicht zu sagen belastet – erscheinen, ob der Vielzahl an Zu-Sehendem und Zu-Hörendem.
Kein Wunder also, dass Kinder sich auch manchmal nach einem Ort der Stille, einem einsamen Platz in der Natur sehnen.
Ansonsten scheint das Leben der Kinder zuhause alles an modernen Geräten zur Kommunikation und Unterhaltung zu bieten.
Da gibt es Fernseher, das Internet und Smartphones.
An Gelegenheiten etwas zu sehen oder zu hören mangelt es den Kindern demnach kaum. Der Geschmack allerdings, den sie entwickeln für das, was sie gerne hören, hängt maßgeblich damit zusammen, was ihre Familie, ihre Freunde und Mitschüler*innen hören (Enkulturation). Je älter die Kinder werden, desto stärker ist der Einfluss ihrer Umgebung. Während junge Kinder noch sehr offen für meine verschiedensten Arten und Formen haben, nimmt diese Offenheit mit dem Alter ab.
Sie lieben mich, sie lieben mich nicht
Mitunter heißt es, dass der Unterricht über mich und mit mir zu wenig berücksichtigt, was die Kinder gerne an mir haben, wann sie mir besonders gerne zuhören, das heißt, welche meiner verschiedenen Formen, Bewegungen und Klänge sie bevorzugen.
Kein Wunder also, dass ein solcher Unterricht mit mir und über mich nicht gerade beliebt ist. Interessant – wenngleich ebenso traurig für mich – daran ist, dass dies gerade für die älteren Kidner zu gelten scheint.
Jüngere Kinder hingegen mögen Unterricht mit mir und über mich –
vielleicht deshalb, weil der direkte Kontakt mit mir noch spürbarer für sie ist.
mündliche Sprachrezeption (Hören)
Hören heißt auch Zuhören.
Um zuhören zu können, braucht es aber auch genügend Raum für Stille und Ruhe.
Sich auf mich und meine Klänge oder auch die Klänge, die andere Menschen mithilfe von Sprache erzeugen, bewusst wahr- und aufnehmen zu können, braucht die Möglichkeit zur Konzentration. Die Kinder in unserer heutigen Welt begegnen so vielen Ablenkungen, dass ihnen gerade das Zuhören oft schwer fällt.
In einem Unterricht mit mir können Kinder und Lehrer*innen aber eben das gemeinsam üben, indem sie bewusst Stille und Ruhe einkehren lassen in eine sonst so hektisch-laute Welt.
Zusammen mit meiner Freundin –
der Sprache –
und dem Unterricht, der ihr gewidmet ist, kann das Zuhören besonders gut geübt werden; wenn es darum geht, den musikalischen, rhythmisch-melodischen Charakter meiner Freundin, der Sprache, zu erkunden („mündliche Sprachrezeption (Hören) umfasst Übungen zur außersprachlichen akustischen Wahrnehmung (z. B. Geräusche und Tonhöhen unterscheiden, Richtungshören …“).
Auch eine andere meiner Freundinnen –
die Technik –
ist eine tolle Sache.
Sie bietet den Kindern seit langem neue Möglichkeiten des Hörens.
Früher wurden Pädagog*innen bewundert, wenn sie einen oft krachenden Plattenspieler und oder Kassettenrekorder mit in die Klasse brachten und Schüler*innen „etwas Schönes“ vorspielten.
Heutzutage allerdings – im Zeitalter von Smartphone, Internet, Youtube und Spotify faszinieren diese „alten Kleider“ meiner Freudin, der Technik, die Kinder kaum noch. Höher, weiter, schneller – mit diesem Leitsatz wachsen Kinder von heute auf.
Kein Wunder also, dass nur höchst Außergewöhnliches für Aufmerksamkeit und Anregung sorgen mag.
Kinder sind diesbezüglich abgestumpft.
Mich bewusst wahrzunehmen, das können Kinder (wieder) lernen, indem sie mir begegnen und mich spüren.
Offenohrigkeit
So viele Formen und Klänge habe ich
und alle sollen die Kinder kennen lernen.
Ich kann mich von meiner ganz klassischen, eleganten, dramatischen und ganz ernsten– man könnte auch sagen meiner nachdenklichen Seite zeigen (klassische Musik).
Ich trage aber auch die Stimmen und Klänge von Menschen in mir, die gemeinsam in einem Land, einer Region leben, gemeinsame Traditionen haben und Feste feiern (Volksmusik).
Ich habe auch eine sehr wilde, sehr freie Seite.
Das heißt, mit mir kann man spielen, mich nach seinen Wünschen frei gestalten (experimentelle Musik). Kinder haben die Gabe, sehr offen zu sein, das gilt auch für ihre Ohren („Offenohrigkeit“).
Diese Offenheit und Neugier für mich zu behalten und weiter zu entwickeln, ist wesentlich. Es bedarf schon einiges an Feingefühl und ausgezeichneter Kenntnis meiner vielen Formen und Stücke, um eine für die Kinder und Jugendlichen passende Wahl zu treffen, damit sie mich gut und gerne kennen lernen können.
Sesam, öffne dich
Pädagog*innen eröffnen die musikalische Welt
Die Pädagog*innen, die mit mir und für die Kinder arbeiten, spielen eine ganz entscheidende Rolle dabei.
Sie sind es, die dafür Sorge tragen, dass die Kinder einerseits das von mir hören, was sie schon kennen und wo sie Freude an mir haben.
Andererseits zeigen die Pädagog*innen den Kindern aber auch Seiten von mir, welche den Kindern vielleicht noch unbekannt und für sie unentdeckt geblieben sind.
Sie sind es, die die Türen, die Vielzahl an Türen in meine Welten öffnen.
Sie sind es, die den Kindern zeigen, wie viel es an mir und über mich zu entdecken gibt.
Die Pädagog*innen sind die Türöffner in meine Welt:
Sesam, öffne dich!
Und die Kinder betreten meine Welt.
Wie bei sehr geübten und guten Köchen zeigt sich das Können und Wissen der Pädagog*innen oft auch daran, dass sie es verstehen, den Musik-Geschmack der Kinder zu entwickeln.
Die Kinder öffnen sich für neue Erfahrungen und entwickeln Freude daran, wie unterschiedlich ich klingen bzw. schmecken kann.
Man sagt ja auch: Etwas ist ein Ohrenschmaus.
Das heißt, ein Genuss für die Ohren.
So bilden die Kinder allmählich einen Geschmack und einen Sinn dafür aus, wie unterschiedlich ich klingen bzw. „schmecken“ kann.
So werden sie, wenn sie älter sind, es vielleicht zu schätzen gelernt haben, dass sie mir in Konzerten, im Musiktheater oder der in der Oper begegnen, dass sie mir ihre Ohren leihen und sich wünschen, mir auf unterschiedlichste Arten, an unterschiedlichsten Orten zu begegnen.
Und so werden sie mir begegnen: über alle Zeiten, Kulturen und Formen (Genres) hinweg.
aktives Musikhören
Fest steht: Kinder hören mir gerne zu.
Die Pädagog*innen unterstützen die Kinder dabei, mir bewusst zu zuhören.
Sie regen zu Gesprächen und das eigenständige Denken an,
über diese Begegnung mit mir nachzudenken und sich über das Mich-Erleben auszutauschen (aktives Musikhören).
Das Mich-Singen,
das Mich-erklingen-Lassen (Produktion),
das Mir-Nachspüren und Mich-Nachspielen (Reproduktion),
das Mit-mir-Spielen, Mich-Verkleiden und Mich-Verändern (Transposition/Transformation)
wie das Über-mich-Nachdenken (Reflexion) –
das ist es, was Kinder aktiv mit mir machen können und dürfen.
schaffen, keinen festgelegten Arten und Weisen und
keinen festgelegten Formen, Klängen oder Musikstücken (Werkkatalog) zu folgen.
Zentral im Unterricht mit mir ist es,
den Kindern zu zeigen, wie sie selbständig und aktiv mit mir umgehen können.
Ich schätze es zwar sehr – wie auch jeder Mensch –, dass man mir zuhört,
lieber aber ist mir,
wenn die Kinder mit und zu mir sprechen,
wenn sie mit mir spielen.
Werkkatalog und Spielräume
Dabei gilt es, Spielräume zu schaffen, keinen festgelegten Arten und Weisen und keinen festgelegten Formen, Klängen oder Musikstücken (Werkkatalog) zu folgen.
Zentral im Unterricht mit mir ist es,
den Kindern zu zeigen, wie sie selbständig und aktiv mit mir umgehen können.
Ich schätze es zwar sehr – wie auch jeder Mensch –, dass man mir zuhört,
lieber aber ist mir,
wenn die Kinder mit und zu mir sprechen,
wenn sie mit mir spielen.
Wer mir begegnet, begegnet sich selbst
Mich wahrzunehmen, mir zuzuhören, ist mir wichtig.
Kindern wie Erwachsenen,
die mir wirklich zu begegnen gelernt haben,
eröffnen sich neue und bislang ungeahnte Fähigkeiten.
Sie beginnen meine Vergangenheit,
mein Leben
und die Wege, die ich gegangen bin,
zu begreifen.
Sie lernen mich über Zeit und Raum hinweg kennen und lieben
(altersgerecht aufbereitete Musikwerke aus verschiedenen Epochen kennenlernen,
Einblicke in formale Strukturen von Musik gewinnen).
Sensibilisierung von sensorischen Wahrnehmungsfähigkeiten
Menschen, die mir zuhören, entwickeln in der Tat ein „feines Gehör“.
Ein Gespür für das, was es heißt, mit offenen Sinnen durchs Leben zu gehen und gleichermaßen achtsam wie wachsam zu sein
(Sensibilisierung von sensorischen Wahrnehmungsfähigkeiten und Verbesserung der Hörkonzentration).
kritischer Hörkonsum
Sie lernen, mit meinen schlechten Seiten umzugehen.
Nämlich dann, wenn ich laut werde, zu schreien beginne und im wahrsten Sinne des Wortes ohrenbetäubend sein kann.
(„kritischer Hörkonsum“, Gefahren durch falsches = schädigendes Hörverhalten).
Wer also mir bewusst begegnet,
weiß mich zu beschreiben,
lernt meine Sprache zu sprechen
(Vokabular für die Beschreibung von Musik entwickeln).
Tonparameter
Wer mich bewusst wahrnimmt,
hat gelernt, meine Stimmung zu deuten
und mein Schweigen zu verstehen
(Tonparameter kennen-, unterscheiden und anwenden lernen).
Instrumente & Klang
Wer mit mir spielt,
spielt auch mit meinen Freunden,
lernt auch deren Sprache
und schließt sie in sein Herz
(Instrumente und ihren Klang kennen- und unterscheiden lernen).
Musik & Person
Wer mir begegnet,
begegnet sich selbst.
(Einblicke in Zusammenhänge von Musik – Person gewinnen).

Kerstin Walz
Ich arbeite als Professorin an der Pädagogischen Hochschule.
Dort gilt mein besonderes Interesse der Mehrsprachigkeit, der Interkulturalität sowie der Sprache und dem Schreiben in all ihren Facetten.
Es ist mir ein Anliegen, Menschen für ihre Sprache, ihr Handeln und damit unser aller Miteinander zu sensibilisieren.