Es ist 07:30. Auf den heutigen Tag freue ich mich schon lange. Noch schnell das E-Mail von der Gemeinde beantworten, den Vater des Kindes aus der Igelgruppe anrufen und mit der Volksschuldirektorin einen Vernetzungstermin vereinbaren, dann geht’s los. Ich gehe von Gruppe zu Gruppe und hole siebzehn Schulanfängerkinder ab. Gemeinsam starten wir voller Vorfreude und auch ein wenig aufgeregt in den Sinnesraum.
Dieser Tag ist für mich ganz besonders, weil ich wieder in die Arbeit mit den Kindern eintauchen, ihre Begeisterungsfähigkeit hautnah spüren kann und mit dabei bin, wenn Neues entsteht. Die Bürokratie kann heute warten.
Seit meinem Studium der „Elementaren Musikerziehung“ ist Musik für mich Kommunikation. Musik fördert Kommunikation. Wir hören Musik und reagieren darauf, drücken aus, was uns bewegt. Wir bringen uns ein in den Klang mit unserer ganz individuellen Stimme. Dabei erfahren sich die Kinder nicht nur als wirksam, sondern in ihrer Gesamtpersönlichkeit nehmen sie sich mit allen Sinnen wahr.
Das ist sehr schön mitzuerleben.
Unser Sinnesraum ist ein großer Raum, den man bei Bedarf vollständig verdunkeln kann. Wir haben eine gute Musikanlage darin, Matten zum Liegen, Kästen gefüllt mit verschiedenen Rhythmus- und Melodieinstrumenten. Eine Seite des Raumes ist sogar komplett verspiegelt.
Nun kann es losgehen! Durch die verschlossene Tür tönt schon spannende Musik. Wir halten kurz inne und lauschen. Die Neugierde der Kinder steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Langsam öffne ich die Türe und die Kinder betreten den Raum. Eines stampft vergnügt voraus und wird von einem anderen Kind zurechtgewiesen.
„Leise! Ich kann die Musik nicht mehr hören.“
Im Raum setzen wir uns im Kreis auf den Boden und ich erkläre den Kindern, was sie erwartet:
„Wir werden heute auf Entdeckungsreise gehen. Mit unseren Ohren.
Aber die Musik schalten wir erstmal aus. Könnt ihr jetzt etwas Anderes hören?“
„Die anderen Kinder – die sind im Turnsaal!“
Verschiedenste Geräusche werden erkannt und benannt.
Schritte im Raum über uns, Verkehrsgeräusche, das Gluckern der Heizung.
Der Hörsinn ist geschärft.
Zeit zum Experimentieren.
Welche Geräusche können wir mit unserem Körper machen?
Wie klingen unsere Stimmen?
Wie klingen die Materialien und Gegenstände im Raum?
Die Kinder führen einzeln vor, was sie alles entdeckt haben und hören sich gegenseitig zu.
Ich habe auch noch etwas mitgebracht.
„Fühlt mal. Was glaubt ihr, ist in dem Säckchen drin?“
„Etwas Weiches. Ist das Watte?“
„Nein, ein Stinkesocken.“
Allgemeines Gelächter.
Langsam öffne ich die Kordel und schaue in das Säckchen rein.
Es wird ganz still und ich flüstere:
„Da sind viele Töne drin.“
Die Kinder werfen sich ungläubige Blicke zu und beginnen wieder zu lachen.
„Soll ich einen Ton rausholen?“
„ Ja!“
Ich ziehe einen Wollfaden langsam heraus und singe, bis er zu Ende ist: „Laaaaaaaaaaaaaa.“
Nun will jedes Kind einen Faden herausziehen und gemeinsam bringen wir sie zum Klingen. Es sind lange und kurze Töne in dem Säckchen und dann auch noch hohe und tiefe. Spannend!

Die menschliche Stimme in ihrer Vielfältigkeit fasziniert mich schon seit langem. Sie dient der Kommunikation und Interaktion und ist zudem ein sehr persönliches Ausdrucksmittel. Unmusikalische Kinder gibt es nicht. Kinder unterscheiden sich jedoch im Erfahrungsschatz. Deshalb ist es bedeutsam, der Stimmbildung, dem Musizieren, dem Tanzen und Gestalten genug Zeit und Raum zu schenken. Um Erfahrungslücken auszugleichen. Um allen Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Stimme zu entfalten, ihre Persönlichkeit zu bilden.
Als nächstes öffne ich die beiden Instrumentenschränke.
„Ihr dürft euch ein beliebiges Instrument auswählen.“ Die Kinder stürmen los.
Einige greifen gezielt zu, andere tun sich mit der Entscheidung schwerer.
Die ersten Töne erklingen bereits, Schlägel werden ausgeteilt und die Geräuschkulisse wird bunter und lauter. Ein Kind hält sich die Ohren zu.
„Das tut mir weh. Das ist zu laut.“

Ich hole meinen Dirigentenstab heraus und gebe den Kindern ein Zeichen, dass sie pausieren sollen.
„Habt ihr schonmal zugeschaut, wenn jemand ein Orchester dirigiert?
Das ist fast so etwas wie ein Zauberstab.“
Wir experimentieren mit Gegensätzen: leise-laut, langsam-schnell, alle-alleine, beginnen-beenden.
Aufeinander hören – Rücksicht nehmen – miteinander musizieren.
Eine hohe Kunst, die sehr viel Konzentration erfordert.
Für heute haben die Kinder genug gehört und erlebt. Nächste Woche machen wir weiter.
„Dürfen wir dann wieder die Instrumente haben?“
„Ja, sicher und da hören wir dann genau hin, welche Instrumente kurze und welche lange Töne machen können.“
Eine Woche später hole ich die Kinder wieder in ihren Gruppen ab und wir gehen gemeinsam zum Sinnesraum. Die Kinder unterhalten sich angeregt und sprechen über die verschiedenen Instrumente: Klangstäbe, Schellenring, Glockenspiel, Trommel, Klangschale… „Aber wie heißt das große Instrument mit den silbernen Stäben?“
„Ah-ja, Metallophon.“
„Und das mit den Holzstäben?“
„Xylophon.“
Wir betreten den Raum und die Kinder stürmen gleich zu den Instrumentenschränken. Wunderbar! Denn die beste Voraussetzung für‘s Lernen ist die Begeisterung.
Wenn Kinder mit Neugier und Gestaltungslust die Welt entdecken sind ihre emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert. Dann wird Erlebtes gespeichert und im Langzeitgedächtnis verankert.
Jedes Kind hat sich ein Instrument ausgesucht und der Reihe nach dürfen sie erklingen. Welches Instrument macht lange Töne und welches kurze? Die Einteilung in zwei Kategorien fällt den Kindern leicht. Aber welches Instrument klingt am allerlängsten und welches am kürzesten? Da muss nochmal ganz genau hingehört werden.
Die Klangschale ist eindeutig das Instrument, das den längsten Ton erzeugen kann, aber klingen die Klangstäbe oder die Trommel kürzer?
Nach kurzer Diskussion entscheiden sich die Kinder für die Klangstäbe.
Zeit für Bewegung.
Ich spiele auf den Klangstäben und die Kinder versuchen sich im Rhythmus dazu zu bewegen. „Stellt euch vor, der Boden ist eine riesige Trommel und ihr klopft mit euren Füßen darauf. Alle gleichzeitig.“
Alle im Einklang.
Das Gehörte in eine kontrollierte Bewegung umsetzen. Den Impuls, einfach loszulaufen, unterdrücken und gezielte Schritte im vorgegebenen Tempo setzen.
Für einige eine Überforderung, für andere eine spannende Aufgabe.
Die Rettung ist da!
„Sie ist mit Blaulicht hergefahren!“
Alle schauen wie gebannt aus dem Fenster. Eine Trage wird ausgeladen.
Ich spüre, wie mein Puls nach oben schnellt.
Was ist passiert? Muss ich nach oben eilen um zu helfen?
Ich kann die Kinder nicht allein lassen.
Mehrere Gedanken rasen gleichzeitig durch meinen Kopf. Ich nehme mein Handy und rufe im Kindergarten an.
Entwarnung.
Die Schmetterlingsgruppe befasst sich gerade mit Blaulichtorganisationen und eine Rettungsmannschaft hat ihnen einen spontanen Besuch abgestattet.
Wie soll ich nur die Aufmerksamkeit der Kinder wieder gewinnen?
Ich verdunkle die Fenster und nutze den Effekt für die nächste Hörübung.
„Ich schlage nun die Klangschale an und ihr dürft euch ganz leise durch den Raum bewegen. Wenn ihr den Ton der Klangschale nicht mehr hört, bleibt ihr wie versteinert stehen.“
Das gefällt den Kindern. Sofort sind sie mit der Aufmerksamkeit wieder da.
Einige Kinder bleiben schon bald stehen, andere drängen sich immer dichter rund um mich und lauschen ganz angestrengt bis der Ton verklungen ist.
Nun ist der Hörsinn ausreichend sensibilisiert und es ist Zeit, Musik einzuschalten. Für das Projekt habe ich fünf unterschiedliche Klavierkompositionen ausgewählt: Suite, Walzer, Etüde, Tarantella und Ragtime. Die Konstante ist die Klangfarbe des Klaviers. Dadurch wird die Aufmerksamkeit stärker auf unterschiedliche Tonarten, Tempi, Rhythmen und Stile gelenkt.
„Bitte sucht euch einen Platz im Raum. Setzt euch auf den Boden. Schließt die Augen und hört ganz genau auf die Musik. Wenn ihr auf eurem Kopf etwas spürt, dürft ihr die Augen wieder öffnen.“
Über jedem Kopf breite ich ein Chiffontuch. Ohne weitere Aufforderung nehmen die Kinder es an sich und einige beginnen das Tuch zur Musik zu schwingen. Je lebhafter die Musik wird, umso mehr Bewegung kommt auch in die Kinder.
Schön zu beobachten, wie sie auf die Musik reagieren.
Es folgt eine zärtlich-melancholische Melodie. Ein Wattebausch in den Händen.
Wie von selbst ändert sich auch die Bewegungsqualität und der Ausdruck in den Gesichtern. Einige Kinder genießen das Lauschen und Eintauchen in die Musik.
Für andere ist es ungewohnt.
Sie beginnen durch den Raum zu laufen.
Der große Spiegel im Raum ist für diese Kinder hilfreich.
„Komm mal zum Spiegel und schau den anderen Kindern beim Tanzen zu. Kannst du die Bewegungen nachmachen?“

Sehsinn und Bewegungsdrang sind bei Kindern stark ausgeprägt.
Ich nutze sie, um die Kinder vom Sehen und Spüren zum Hören zu leiten.
Und noch ein wesentlicher Aspekt wird berücksichtigt: Kindliche Entwicklung vollzieht sich immer im Kontext von Beziehungen.
Andere beobachten, Dinge nachahmen, sich selbst dabei beobachten, eigene Ausdrucksformen finden.
Ein Spiegel bietet dafür die idealen Lernbedingungen.
Das sinnliche Erleben ist anregend, es fördert, aber es macht auch hungrig.
Einige Kinder wollen gleich in unser Kinderrestaurant, um an der Genussjause teilzunehmen, andere wollen zurück in ihre Gruppe. Manche erzählen begeistert von ihren Erlebnissen, andere ziehen sich zurück und verarbeiten im Stillen.
Mein erstes Resümee: Im Sinnesraum haben die Kinder die wahrgenommene Musik mit dem ganzen Körper ausgedrückt. Sogar die sonst zurückhaltenden Kinder setzen das Gehörte in Bewegung um, alle mit ihrer individuellen Ausdrucksweise.
Viele spitze Ohren.
Viele konzentrierte Gesichter.
Viele umgesetzte Empfindungen. Eine wunderbare Mehrstimmigkeit.
In der dritten Projektwoche nutzen wir unser Atelier.
Vor einigen Jahren ist es mir gelungen, diesen großen Raum für das kreative Gestalten freizuspielen. Seither ist er der Lieblingsraum vieler Kinder, und auch meine Mitarbeiter*innen schätzen die anregende Atmosphäre. Kinder einladen.
Ihnen Mut machen.
Sie inspirieren.
Ihnen die Möglichkeit geben, die Welt eigenständig und selbstbestimmt zu entdecken –meine pädagogische Haltung. Oft nicht einfach dem Leistungsdruck etwas entgegenzuhalten. Gewaltloser Widerstand. Neue Autorität.
Ein Farbbuffet ist aufgebaut: Filzstifte, Holzstifte, Ölkreiden, Fingerfarben, Pinsel, Spachtel und Paletten stehen für die Kinder bereit. Papier in unterschiedlichen Formaten ebenfalls. An der Wand, der Staffelei, am Tisch und am Boden kann gemalt werden. Doch zunächst versammeln wir uns rund um die Musikbox.
„Wir erinnern uns an letzte Woche. Wie hat die Musik geklungen? Wie haben wir getanzt?“ Mit geschlossenen Augen lauschen wir den ersten Takten und beginnen zu dirigieren. „Welche Farben passen zu dieser Musik? Holt euch vom Buffet, was ihr braucht, und lasst die Farben auf dem Blatt tanzen.“

Einige Kinder haben Bilder im Kopf und bringen diese aufs Papier. Andere versinken ganz in der Musik und schwingen den Pinsel im Rhythmus. Und wieder andere sind verwirrt, wissen nicht, was sie tun sollen. Erstmal beobachten.
Das hilft.
Ein Kind spricht seine Gedanken aus: „Die Musik klingt dunkel. Ich glaube. ich brauche schwarz. Oder nein, braun ist besser.“
Beim Ragtime stellt ein Kind seinen Stuhl beiseite.
„Der ist mir jetzt im Weg.“
Ein Mädchen präsentiert stolz ihr Kunstwerk.
„Ganz viel Wind is auf meinem Papier.“
Die Kinder erleben sich in diesen Momenten im höchsten Maße selbstwirksam.
Sie hören Musik, verwandeln diese in Bewegung und sehen ihr Ergebnis.
Kein Bild gleicht dem anderen, so wie auch jedes Kind einzigartig ist.
Gestaltungslust und hohe Konzentration sind im Raum spürbar. Über eine Stunde hören, malen und tanzen die Kinder.
Meine Kunst ist fertig.
Genug für heute.
Die Kinder haben intensiv gearbeitet und kehren gerne wieder in ihre Gruppen zurück.
Aus den Bildern wird eine bunte Vernissage gestaltet und den Eltern präsentiert.
Ob sie je erahnen können, was alles darin steckt?


Verwendete Musikstücke:
- Claude Debussy: Children’s Corner – Doctor Gradus ad Parnassum (Suite C-Dur 1908)
- Yann Tiersen: Six Pieces for Piano – La Valse d’Amélie (Walzer C-Dur 2001)
- Carl Cerny: Die Schule der Geläufigkeit Op.299 (Etüde C-Dur 1830)
- Robert Schumann: Album für die Jugend Op.68 No.8 Wilder Reiter (Tarantella a-Moll 1848)
- Scott Joplin: Maple Leaf Rag (Ragtime As-Dur 1899)

Karoline Zorzi
Ich arbeite als elementarpädagogische Leitung in Kinderkrippe und im Kindergarten Seefeld.
Dort beschäftige ich mich auch mit der Qualitätsentwicklung der frühkindlichen Bildung.
Es ist mir ein Anliegen, dass kindzentriertes und selbstbestimmtes Lernen in allen Bildungseinrichtungen zur pädagogischen Grundhaltung wird.