Von der vermeintlichen Banalität des Zuhörens Ein Gespräch zwischen Inés Pichler und Andreas Wurzrainer

Im folgenden Text lauschen wir einem Dialog zwischen zwei Dozierenden, die sich mit der Frage beschäftigen: Was steckt hinter dem Zuhören? Wie können sich Pädagog*innen ihrer Zuhörkompetenz bewusst werden, um sie entsprechend zu stärken und weiterzuentwickeln? Dabei greifen greifen Inés Pichler und Andreas Wurzrainer eine konkrete Situation auf und diskutieren ihre Verstehensprozesse.

I Hallo, Andreas! Ich habe in letzter Zeit viel über das Zuhören nachgedacht und gelesen. Und mich beschäftigt dieses Thema im Kontext der Schule. Ich hab das Gefühl, da steckt noch viel mehr dahinter als gemeinhin gedacht.

A Ja, das spiegelt sich auch in den neuen Lehr­plänen wieder: das Zuhören als Unterrichtsinhalt, als wichtiger Kompetenzbereich.

I Du hast recht. Aber lass uns diese offensichtliche Ebene einmal kurz beiseitelegen. Ich würde gerne auf das Zuhören durch die Pädagog*innen fokussieren. Die Zuhörkompetenz bei Lehrpersonen wird vorausgesetzt, als gegeben angenommen.

A Zuhören ist im pädagogischen Kontext etwas Alltägliches. Ständig hören Pädagog*innen den Lernenden zu, hören, was sie auf Fragen antworten, was sie wissen wollen, mit welchen Bedürfnissen sie kommen, was sie am Wochenende erlebt haben.

I Das klingt, als ginge es nebenbei, als wäre es banal. Gerade weil es so alltäglich ist und von Pädagog*innen erwartet wird, besteht die Gefahr, auf diesen Bereich des professionellen Handelns nicht mehr genau hinzuschauen. Dabei sind diese Kommunikationssituationen komplex und hoch­dynamisch (Meier, 2019, S. 45).

A Schauen wir doch einmal hin auf das Zuhören an einem konkreten Beispiel im Schul- und Unterrichtskontext.

I Ich habe da so eine Situation im Kopf, mit der ich gerne starten möchte: In der großen Pause toben die Kinder am Pausenhof, die Lehrpersonen stehen in kleinen Gruppen in der Sonne. Plötzlich kommen zwei Kinder zu ihrer Lehrerin und berichten aufgeregt, dass die angenähten Sterne von ihren beiden Jausenboxen weg sind.

A Bitte lass uns diese Situation kurz einfrieren und einen Stopp machen, denn da passiert hier Wesentliches fürs Zuhören.

I Unter der Oberfläche passiert in diesem Moment ganz viel. Bleiben wir bei der Lehrperson. Die Lehrerin unterbricht ihr Kolleg*innengespräch und hört, was die Kinder sagen. Gleichzeitig knüpft das Gehörte an ihre Erfahrungen an. Nehmen wir einmal an, sie hört den Auftrag an sie heraus, die Sterne doch bitte wieder zurückzuholen. Sie überlegt also, wie sie den Verlust der Sterne erklären könnte. Diebstahl? Unachtsamkeit? Im ersten Fall könnte sie versuchen, detektivisch (Palmowksi, 2008, S. 57-58) zu einer Lösung zu kommen. Im zweiten könnte sie die Kinder auf die Suche nach den heruntergefallenen Sternen schicken. Jedenfalls aber gelte es, zu handeln.

A Du sagtest vorhin, die Lehrperson hätte einen Auftrag gehört. Entsprechend hat sie unmittelbar nach einer Erklärung und oder Lösung gesucht. In Lehr- und Lernkontexten ist Spontaneität oft notwendig. Pädagog*innen sind kreativ, lösungs­orientiert und wünschen sich daher rasche nächste Schritte.

I Lösungsorientierung haben wir als etwas Positives kennengelernt. Allerdings setzt uns die Erwartung, die Lösung für das Problem eines anderen zu finden, auch massiv unter Druck. Und in dieser Situation spielt meine Erfahrungswelt ganz stark in den Zuhörprozess hinein. Ich verstehe das, was ich für möglich oder wahrscheinlich halte. Ich habe Lösungen, die für mich sinnvoll erscheinen. Lösungen für eine Situation, die ich gar nicht oder nur am Rande miterlebt habe. Die Autorität einer Lehrperson stützt diese Haltung zusätzlich (von Foerster & von Glasersfeld, 2014, S. 13).

A Was hörte denn die Lehrerin in dieser Situation aus deiner Sicht?

I Dort hört die Lehrerin also, dass die angenähten Sterne weg sind. Sie antwortet: Die habt ihr sicher verloren – geht schauen. Und sie dreht sich um und setzt ihr Gespräch mit den Kolleg*innen fort. Damit liefert sie eine für sie plausible Erklärung, eine Lösung und beendet das Thema somit.

Eine Comic-Zeichnung zeigt ein Mädchen, welches auf etwas außerhalb des Bildes zeigt. Es spricht und die Wörter fliegen zum Ohr der zuhörenden erwachsenen Person. Im Kopf der Frau ist eine Kommode abgebildet, eine Schublade ist geöffnet und dorthin gehen die Wörter des Kindes.
Abb. 1:  Die Bedeutung bestimmt die / der Hörende. (Kirchmair, P., 2022)

A Die Lehrperson war offensichtlich gerade in ein fachlich-didaktisches oder persönliches Gespräch mit ihren Kolleg*innen vertieft, beides ist legitim. Und legitim ist es auch, eine Anfrage für ein paar Minuten freundlich auf die Warteliste zu setzen. Das Gespräch möchte man abschließen, bevor man sich der Anfrage annimmt.

I Jedenfalls! Es muss kommuniziert werden, dass man wahrgenommen hat, sich aber erst in einigen Minuten dessen annehmen wird.

A Nehmen wir doch einmal die Aussage der Schüler*innen, die Sterne seien weg, als Beziehungsanfrage: Sie möchten mit mir in Kontakt treten. Sie möchten mir etwas sagen, sie möchten von mir wahrgenommen werden. Sie suchen die Nähe in der Begegnung (Waibel & Wurzrainer 2016, S. 32).

I Das nimmt den Handlungsdruck. Und es gelingt leichter, vorerst beim Kind zu bleiben, ohne in der eigenen Erfahrungswelt auf die Suche zu gehen: Worum geht es euch? Was braucht ihr jetzt? Damit erkundige ich mich, wie die Wirklichkeit für die Kinder aussieht. Das macht auch für diese einen großen Unterschied: Man wird wahrgenommen. Man geht in Beziehung.

A Anstelle des vertrauten Musters „analysieren – restlos verstehen – Lösungen bieten“ ist das Neue nun das ehrliche Interesse an der Wirklichkeit des anderen, die durch Fragen erkundet wird. Dies ist eine ständiger Prozess des Annäherns und Abgleichens.

I Hier wird deutlich, dass Zuhören nicht ohne Sprechen möglich ist. Zuhören und Sprechen sind Teile einer zirkulären Annäherung. Was ich aus einer Aussage heraushöre und was ich überhöre, liegt an meinen Erfahrungen – die Möglichkeiten sind praktisch unbegrenzt (Meier, 2019, S. 50-51). Dazu kommt, dass die Sprache an sich vage ist.

A Trotzdem scheint es so, als ob wir uns in den meisten Fällen verstehen. Aber der Erfolg dieses Verstehensprozesses hängt davon ab, wie weit beide Gesprächspartner*innen an der Wirklichkeitskonstruktion des anderen interessiert sind. Damit sind wir bereits mitten in kommunikationstheoretischen Überlegungen.

I An dieser Stelle fällt mir ein, dass du am Anfang unseres Gesprächs das Zuhören als Unterrichts­inhalt, als Kompetenz erwähnt ist. Die neuen Kompetenzraster des Bundesministeriums führen die Teilkompetenz „Hörverstehen“. Innerhalb der Kompetenzebenen wird dann von „Zuhören“ gesprochen. Das Zuhören bzw. das Hörverständnis ist reduziert auf die korrekte Wiedergabe von Gehörtem. Dahinter stehen zwei Vorstellungen: Einerseits ist es jene des Kommunizierens als Botschaftspaket, das der Sender schnürt und verschickt, und welches der Empfänger öffnet – also eine materielle, physische Vorstellung (Lakoff & Johnson, 2014) eines nicht (rein) physischen Vorganges. Die zweite Vorstellung lässt – in Anknüpfung an unsere physischen Erfahrungen – den Erfolg der Kommunikation, des Zuhörens messbar erscheinen. So, als gäbe es ein objektives Messinstrument für das Verstehen. Unsere Auffassung von Zuhören von Kindheit an ist damit jedoch verkürzt (Meier, 2019, S. 48).

A Wenn wir diese bisherige, beschränkte Vorstellung überwinden wollen, sollten wir uns mit Verständnisprozessen und Wirklichkeitskonstruktion auseinandersetzen. Das ist ein Bruch.

I Sich Gedanken zu machen zum eigenen Zuhören, zu eigenen Kommunikationsmustern und –strategien ist zunächst ungewohnt und erfordert einerseits Wissen um Kommunikationsprozesse und andererseits Reflexionsleistung. Es geht hier folglich um weit mehr als einen Werkzeugkoffer für Pädagog:innen.

A Mehr als ein Werkzeugkoffer, aber auch weniger: Es kommt nicht noch eine Aufgabe dazu, noch ein Add-on, noch eine Methode, die ich anwenden muss. Ganz im Gegenteil: Das Wissen darüber, wie sich Kommunikation gestaltet, wie wir uns die Wirklichkeit konstruieren, führt zu anderen Handlungsoptionen, weil sich die Haltung ändert. Es geht also nicht um ein Mehr oder Weniger, sondern um ein Anders.

I Das ist eine ermutigende Sichtweise. Wie können Pädagog*innen diesen Prozess in sich anders anstoßen?

A Eine Änderung könnte sein, sich mit der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung zu beschäftigen. Was sind meine momentane Sinneseindrücke, und welche Bedeutungen schreibe ich diesen zu? (Watzlawick & Nardone, 2012, 38-40).

I Lass uns das kurz praktisch denken: Die Sterne auf den Jausenboxen sind verschwunden, das ist sinnlich wahrnehmbar. Also ein Fakt. Damit ist es aber noch kein Problem. In den Status eines Problems wird dieser Umstand erst erhoben, wenn wir ihm eine negative Bedeutung beimessen, also den Verlust bedauern, ein Erklärungsansatz kränkend ist oder Ähnliches.

A Aber das Wissen um diese zwei verschiedenen Wirklichkeiten allein ändert noch keine Haltung. Es geht auch um die eigene Entscheidung, spüren zu wollen, welchen Unterschied es macht, um dranzubleiben.

I Neue Herangehensweisen an das Zuhören testet man vielleicht in unproblematischen Situationen. Situationen, die immer wieder auftreten, und in denen man immer wieder gleich handelt – eventuell mit variierender Intensität (Watzlawick, 1983), eignen sich besonders für ein Experiment. Denn hier ist verändertes eigenes Verhalten und der Unterschied in der weiteren Folge am besten spürbar.

A Dafür eignet sich eine Situation,, die im Schulkontext immer wieder auftritt, und die mich belastet oder irritiert oder in der ich das Gefühl habe, keine passende Lösung zu haben. Eine Anfrage während ich ein Gespräch führe, eine Kontaktaufnahme während des Unterrichts, ein Elterngespräch. Und hier könnte ich mich im Vorfeld fragen: Wie mache ich das normalerweise? Wie agiere ich? Welche Gedanken habe ich dabei?

I Das kann z. B. ein Abwehrimpuls sein, den ich spüre. Oder ein starker Beschützerinstinkt. Oder eben den Wunsch, unmittelbar nach einer Lösung zu suchen.

A Für den Moment, wo diese Situation wiederkehrt, nehme ich mir nun eine ganz kleine Veränderung in meinem Mindset vor: Diesmal bin nicht ich die erste, die einen Ausweg vorschlägt. Diesmal lass ich das Gesagte einfach stehen, ohne es zu kommentieren oder interpretieren. Diesmal frage ich, wie die Welt aus der Perspektive des Gegenüber aussieht.

I Es wird sich etwas ändern, weil ich mich ein bisschen mehr zurechtfinde in der Wirklichkeit des Gegenübers. Weil ich anders zugehört habe und Kommunikation auf andere Art möglich gemacht habe, sind andere nächste Schritte aus der Situation möglich.

A Diese Schritte muss die Lehrperson vielleicht gar nicht selbst gehen. Möglicherweise reicht es, einen nächsten Schritt gemeinsam mit dem Gegenüber zu benennen. Dann ist die Lösung nicht jene der Lehrperson, sondern die Lösung jener Person, die ein Problem sieht. Dazu wäre der Austausch wertvoll zwischen Pädagog*innen, die sich ebenfalls Gedanken dazu machen, die vielleicht schon einmal experimentiert haben mit dieser Haltung. Vielleicht machen wir dazu einmal eine Veranstaltung?

I Das ist eine gute Idee! Wir haben nun einiges kurz angesprochen, das uns wichtig erscheint zum Thema Zuhören und wie es zu einer besseren Kommunikation beitragen kann. Glaubst du, das Thema stößt auf das Interesse der Pädagog*innen?

A Wir Pädagog*innen haben ja einen Erziehungsauftrag, den es zu erfüllen gilt. Eine professionelle Kommunikation gehört dazu. Sie führt zu besseren Beziehungen und das wiederum hat einen positiven Einfluss auf das gemeinsame Lernen.

I Man kann diesen Erziehungsauftrag also auch als Beziehungsauftrag verstehen, in dem ich mich als Lehrperson auch als Lernende*n verstehe (Voß, 2005) und aus dieser Rolle heraus die Schüler*innen und ihre Wirklichkeit – soweit möglich – wahrnehme. Danke, lieber Andreas, für das Gespräch. Im Austausch entstand mehr als anfangs gedacht, das sollten wir öfters machen.

Literatur

  • Lakoff, G., Johnson, M. (2014). Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern.
    (8. Aufl.). Carl-Auer.
  • Kirchmair, P. (2022). Die Bedeutung bestimmt die / der Hörende [Comic].
  • Maier, U. (2019). Zu/Hören im Zeitalter der konstruktivistischen Wende. KONTEXT 50, 1, S. 45–67.
    https://doi.org/10.13109/kont.2019.50.1.45
  • Palmowski, W. (2008). Anders handeln. Lehrerverhalten in Konfliktsituationen. (5. Aufl.). borgmann.
  • Schwehm, J. (2017). Systemisch unterrichten. Fachunterricht prozessorientiert gestalten. Carl-Auer.
  • Von Foerster, H.; von Glasersfeld, E. (2014). Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. (5. Aufl.). Carl-Auer.
  • Voß, R. (Hrg.) (2005). Unterricht aus konstruktivistischer Sicht. Die Welten in den Köpfen der Kinder. (2. Aufl.). Beltz.
  • Waibel, E. & Wurzrainer, A. (2016). Motivierte Kinder – authentische Lehrpersonen. Einblicke in den existenziellen Unterricht. Beltz-Juventa
  • Watzlawick, P. (1983). Anleitung zum Unglücklichsein. Piper.
  • Watzlawick, P. & Nardone, G. (Hrsg.). (2012). Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. Eine Einführung. Piper.
Inés Pichler

Ich arbeite als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Tirol.

Dort beschäftige ich mich auch mit Sprachwissenschaft, dem Schreiben und mit nachhaltiger Bildung und Entwicklung.

Es ist mir ein Anliegen, dass wir Kommunikation als anregenden Austausch und als schrittweise und gegenseitige Annäherung verstehen, um gute Beziehungsarbeit zu leisten.

Andreas Wurzrainer

Ich arbeite als Lehrender und planender Mitarbeiter im Zentrum für Führungspersonen an der Pädagogischen Hochschule Tirol.

Dort beschäftige ich mich vorwiegend mit den Hochschullehrgängen von Schulführungspersonen. und den dazugehörigen Fortbildungs- und Vernetzungsmöglichkeiten.

Es ist mir ein Anliegen, dass ich die handelnden Personen in Bildungseinrichtungen beim Klären des pädagogischen Zielbildes und der Orientierung daran mit potenzialfokussierter Kommunikation unterstützen kann.